Der Wirkstoff Phenprocoumon zur Hemmung der Blutgerinnung wurde bereits 1955 von Hoffmann-La-Roche patentiert. Heutzutage ist er eine der Grundlagen in der medikamentösen Behandlung und Prophylaxe von Thrombosen und Embolien. Wenn allerdings ein Phenprocoumon-Patient operiert werden soll, müssen etliche Dinge frühzeitig geplant werden. Worin die Risiken für die Patienten, aber auch für das behandelnde Team liegen, erläutert Miriam Stüldt-Borsetzky, Medizinrechtlerin in unserer Unternehmensgruppe. Sie verdeutlicht dies anhand eines konkreten Schadenfalls.

Einen Patienten, der ein Medikament mit dem Wirkstoff Phenprocoumon einnimmt, muss man vor unkontrollierbaren Blutungen schützen. Bei geplanten Operationen berücksichtigt eine frühzeitige Vorbereitung dieses Risiko – sie umfasst die stationäre Aufnahme genauso wie das postoperative Handeln. Aber vor allem muss festgelegt werden, wie unkontrollierbare Blutungen während der Operation vermieden werden können. Dafür gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Entscheidend für den Startzeitpunkt der OP ist die Kontrolle des Blutgerinnungsfaktors.
 

Der Fall: Darm-OP bei Marcumar-Patient

Ein Patient, der aufgrund einer Herzerkrankung dauerhaft ein blutverdünnendes Medikament einnimmt, begibt sich zu einer Darm-Operation in ein Krankenhaus. Es wird eine überbrückende Behandlung mit Heparin eingeleitet und zeitgerecht vor der Operation wieder pausiert. Nach Stoppen des Heparinperfusors ordnet der behandelnde Arzt eine Gerinnungsuntersuchung an. Dabei liegt der Wert, der die Wirkung des Heparins anzeigt, im Normbereich. Bei telefonischer Nachfrage aus dem Operationssaal heraus kann das Labor den noch fehlenden INR/Quick-Wert aber nicht nennen, da die Gerinnungsanalyse noch nicht beendet ist. Dennoch wird die Operation begonnen und ein rückenmarksnaher Katheter für das Anästhetikum gelegt. Erst danach meldet das Labor, dass der INR/Quick-Wert im pathologischen Bereich liegt. Das bedeutet: Die Blutgerinnung als Folge der medikamentösen Behandlung ist weiterhin nahezu aufgehoben. Der Patient zeigt im Operationsgebiet keine Blutungsneigung und auch im Aufwachraum stellen sich keine auffälligen Symptome ein. Er äußert lediglich leichtes Kribbeln in den Beinen, bei intakter Motorik.

Die Heparingabe wird wieder begonnen. Am Abend schwindet die Motorik zunehmend, am nächsten Morgen wird beim Patienten ein inkomplettes Querschnittsyndrom diagnostiziert. Ursache: Die Blutung der Einstichstelle, die bei der periduralen Anästhesie verursacht wurde, ist aufgrund der fehlenden Blutgerinnung unbemerkt fortgeschritten.
 

Das Gutachten: eindeutige Behandlungsfehler

Die Operation ist ohne Zweifel indiziert gewesen und entsprechend geplant worden. Einige Tage vor der Operation ist die stationäre Aufnahme mit einhergehender Ausgleichung des blutverdünnenden Medikamentes vorbildlich erfolgt, so der beauftragte Gutachter. Im weiteren Verlauf erkennt er jedoch Behandlungsfehler.

Die peridurale Anästhesie hätte nicht durchgeführt werden dürfen, ohne das komplette Ergebnis der Gerinnungs­diagnostik zu kennen. Wären die pathologischen Gerinnungswerte bekannt gewesen, wäre der Katheter nicht angelegt worden. Ohne Probleme sei eine Verschiebung der Operation um einen Tag möglich gewesen, bis sich die Gerinnungsparameter normalisiert hätten.

Der Gutachter attestiert weiter, dass auf die Weise die Entwicklung eines epiduralen Hämatoms vermieden worden wäre. Er beschränkt seine Feststellungen nicht nur auf Zuwarten und Verschieben: Darüber hinaus hätte seiner Auffassung nach die Blutung selbst früher entdeckt werden können – jedenfalls mit einer engmaschigen neurologischen Kontrolle. Dazu war die Überwachung in der Nacht jedoch nicht geeignet. Erst als die dramatischen Folgen in Form der inkompletten Querschnittlähmung am nächsten Morgen erkannt worden waren, wurde adäquat gehandelt.
 

Die Folgen: nicht umkehrbarer Schaden

Trotz mehrerer Aufenthalte in einer Rehabilitationsklinik erleidet der Patient einen nicht wesentlich umkehrbaren Gesundheitsschaden. Er wird in den Pflegegrad IV eingestuft.

Was kann man lernen, was muss man wissen?

Es gibt Fälle, da muss man sich streiten: Liegt wirklich ein Behandlungsfehler vor, sind nicht Vorerkrankungen die eigentliche Ursache des Schadens, sind die Ansprüche eines Patienten berechtigt, ist die Höhe der Schadenersatzforderung angemessen...?

Es gibt aber auch Fälle wie diesen hier, da ist die Lage eindeutig. Darum sollte man alles dafür tun, dass die Verhandlungen sich nicht unendlich hinziehen oder es nicht zu einem Streit vor Gericht kommt. Und das bedeutet viel Engagement: auf Seiten der Klinik und ihres Versicherers und auf Seiten des Patienten mit seinem Anwalt.

Die Klinik kann dazu beitragen, dass es nicht zur Eskalation, sondern zu einer zügigen Schadenabwicklung kommt. Und zwar indem sie in ihrer Stellungnahme alle notwendigen Informationen über den Sachverhalt und zum Patienten mit allen wichtigen Aspekten offenlegt. So kann schnell deutlich werden, ob die Haftung besteht.

Die Klinik beziehungsweise ihre Versicherung muss sodann auf die Patientenseite zugehen, denn ein „Drumherum-Lamentieren“ wird schnell als ein bewusstes Hinauszögern des „bösen Versicherers“ verstanden. Das schraubt die Forderung noch einmal in die Höhe.

Zusammen mit dem Patientenanwalt und vor allem mit Fingerspitzengefühl muss ausgelotet werden, wie der Gesundheitsschaden sich im Alltag tatsächlich auswirkt. Dabei müssen Vorerkrankungen, das Alter und auch die konkreten Wünsche des Patienten berücksichtigt werden. Für manchen Patienten ist das Wichtigste, dass das Bad zu einem behindertengerechten Bad umgebaut wird. Da treten womöglich Fahrtkosten oder der Haushaltsführungsschaden in den Hintergrund.
 

Der Vergleich: das Ergebnis

Der Anspruch auf Schadenersatz wurde im April 2020 erhoben. Die Forderung betrug 300.000 Euro. Innerhalb von nur neun Monaten haben sich beide Seiten in Vergleichsverhandlungen abschließend geeinigt – in einer Größenordnung von 210.000 Euro.

Die Prävention

Es liegt unbestritten ein vermeidbarer Fehler zugrunde. Damit solche oder ähnliche Ereignisse nicht erneut auftreten, sind schriftlich festgelegte Maßnahmen durch das Risikomanagement wichtig. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Nur bei Vorliegen aller Befunde darf die peridurale Anästhesie durchgeführt werden – sofern die Werte im entsprechenden Bereich liegen.
  • Wenn sich die Gerinnungsparameter nicht im normalen Bereich befinden, wird eine Operation verschoben – es sei denn, es geht um Leben und Tod.
  • Beschreibt ein Patient wie in diesem Fall Kribbeln oder andere neurologische Ausfallerscheinungen, wird er engmaschig neurologisch kontrolliert – bei Tag und auch bei Nacht.
  • Die Risiko-Beraterinnen und -Berater der GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung unterstützen in solchen Fällen gern mit ihrer Expertise.