Das Gesundheitswesen steht vor einem Jahrzehnt fundamentaler Veränderungen, die die unsichtbaren Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung mindestens aufweichen werden. Expertinnen und Experten aus der Gesundheitswirtschaft haben daran in der jüngsten Tagung des Beirates der Ecclesia med keinen Zweifel gelassen. Die Sektorengrenzen produzieren Mehrausgaben, hemmen Innovationen und beeinträchtigen eine optimierte Patientenversorgung. Das wird sich das Gesundheitssystem künftig nicht mehr leisten können, darin waren sich die Referentinnen und Referenten der Tagung einig.

Schon die äußeren Gegebenheiten erhöhen den Druck auf das System erheblich: sich absehbar weiter verschärfender Fachkräftemangel in den Praxen wie in den Kliniken und hohe Lohnkosten – bei gleichzeitig wachsendem Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen in einer älter werdenden Gesellschaft benannte beispielsweise Prof. Dr. Boris Augurzky, Leiter der Abteilung Gesundheit am RWI Leibniz-Institut, als eine enorme Herausforderung. Dazu wirken auch politische Veränderungen wie die Rückkehr des Krieges nach Europa, Deglobalisierung, Energieknappheit und Inflation auf das System ein. Gleichzeitig hat das Gesundheitssystem mittlerweile einen Anteil von 13 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, die Defizite der Krankenkassen werden größer, die Krankenhäuser sehen existenzielle Bedrohungen auf sich zukommen.

Prof. Augurzky sieht die Potenziale des Gesundheitswesens, mit denen den Herausforderungen begegnet werden kann, unter anderem in der sektorenübergreifenden Versorgung und der Ambulantisierung, also der ambulanten Ausführung komplexer Leistungen. Dafür, so Prof. Augurzky weiter, müssten aber einheitliche Anforderungen und Rahmenbedingungen an sektorengleiche Versorgung und Vergütung gelten, eine sektorenübergreifende Bedarfsplanung sei anzustreben. Für den Gesundheitsökonomen geht das einher mit der Überprüfung der Rollen der Krankenhäuser. Insbesondere für kleine Kliniken ergebe sich möglicherweise eine Neudefinition ihrer Aufgabe als Ambulante Großklinik, deren Vergütung auf der Basis komplex-ambulanter DRG-Pauschalen beruhe.

Der Strukturwandel zwingt aber nicht nur den stationären Sektor zu Neujustierungen, sondern auch den vertragsärztlichen Bereich. Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, veranschaulichte das mit prägnanten Zahlen: Rein rechnerisch verringert sich die ärztliche Arbeitszeit in den deutschen Praxen permanent. Alle vier Stunden geht der Versorgung ein Arzt verloren. Denn immer mehr Ärztinnen und Ärzte arbeiten in Teilzeit, immer weniger sind selbstständig, Arztsitze können nicht nachbesetzt werden. 

Dr. Dominik von Stillfried sieht die Ursachen unter anderem bei der Preisentwicklung für vertragsärztliche Leistungen. Im ambulanten Sektor werde deutlich weniger für die ärztliche Leistung gezahlt als stationär, dabei stiegen die Betriebs- und Personalkosten auch hier. Es gelte also, mehr Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinische Fachangestellte in den Praxen zu halten und für die Praxen zu gewinnen. Dr. von Stillfried fordert die Gesundheitspolitik auf, dazu geeignete Maßnahmen zu treffen. Auch er sieht in der Ambulantisierung von bisher stationären Leistungen eine Perspektive für beide Seiten. 

Das Wagnis kann gelingen. Augenärztin Priv.-Doz. Dr. Ursula Hahn, Geschäftsführerin der OcuNet GmbH & Co. KG, verdeutlichte das anhand der Katarakt-Operation. Würden alle Katarakte noch heute stationär operiert, müsste ihren Worten nach dafür ein deutlich dreistelliger Millionenbetrag mehr aufgewendet werden. Aber die Katarakt-OP funktioniere als ambulante Leistung aus ökonomischer Perspektive vor allem, weil Vergütung und Anreize für Behandler gegeben seien. 

In der Augenheilkunde hat die Ambulantisierung der Katarakt-OP letztlich dazu geführt, dass sich spezielle Zentren bildeten. Das kommt der heutigen Affinität der nachwachsenden Ärztinnen und Ärzte zu einer Tätigkeit im Angestelltenverhältnis entgegen. Es ist aber auch eine Antwort auf die weiteren Fragen, mit denen sich das Ambulante Gesundheitswesen konfrontiert sieht – dazu gehören die Stichworte Digitalisierung, kalte Strukturreform über Regulierung oder die Verbesserung der Einnahmesituation durch Skaleneffekte. 

Letztlich stellt sich auch die Frage, wie die Patientinnen und Patienten auf die Entwicklung schauen und welchen Bedarf  sie haben. Chancen und Hürden einer sektorenübergreifenden und digital vernetzten Versorgung wurden durch Frau Dr. Irmgard Landgraf, Hausärztin und Vorstandsmitglied im Aktionsbündnis Patientensicherheit, und Prof. Dr. Christian Storm, Intensivmediziner und Gründer der Telehealth Competence Center, sehr eindrucksvoll dargestellt. Die Anamnese durch Jessica Hanneken, beim Finanzdienstleister BFS health finance zuständig für Gesundheitspolitik und Investment, fiel kritisch aus. Die Patientinnen und Patienten würden in der Regel auf ihrem Weg zwischen den Sektoren nicht begleitet, in der Folge komme es zu vermeidbaren Doppeluntersuchungen, hohen Ausgaben und langen Behandlungszeiten. Weil der Informationsfluss nicht gut sei, werde das Genesungspotenzial nicht so genutzt wie es möglich wäre. 

Als Gegenvision entwarf sie ein Bild der sektorenübergreifenden Versorgung, das durch eine bessere Kooperation, durchgängige Prozesse und die Steuerung der Patientinnen und Patienten in die richtige Versorgungsebene gekennzeichnet war. 

Eine Vision, der Prof. Dr. Boris Augurzky viel abgewinnen konnte. Denn er sieht nicht nur ein Jahrzehnt der fundamentalen Anpassungen, sondern auch der schnellen Veränderungen auf das Gesundheitswesen zukommen. Die kommenden Jahre erfordern eine erhebliche Veränderungsbereitschaft und hohe Entscheidungsgeschwindigkeit.