Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat im August 2019 Angehörigen einer verstorbenen Frau Unterhaltszahlungen nur bis zum fiktiven 65. Geburtstag der Verstorbenen zugesprochen.1 Die Frau war nach einem Behandlungsfehler gestorben. Die Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes, nach der Frauen im Durchschnitt 82 bis 84 Jahre alt werden, ließen die Richter bei ihrem Urteil außer Acht. Denn der gesundheitliche Gesamtzustand der Frau ließ sie daran zweifeln, dass die Patientin dieses Alter hätte erreichen können. Was daraus folgt, erläutert Miriam Stüldt-Borsetzky, Fachjuristin für Medizinrecht in unserer Unternehmensgruppe.

Wenn Klage wegen eines Behandlungsfehlers erhoben wird, ist das für alle Beteiligten eine Ausnahmesituation, die von psychischen Belastungen gekennzeichnet ist. Die von dem möglichen Behandlungsfehler Betroffenen müssen zunächst einmal mit den Folgen eines Schadens zurechtkommen, möglicherweise sogar mit dem Tod eines Angehörigen. Die ärztliche Seite hadert ebenfalls mit der Situation.2 Hinzu kommt auf beiden Seiten die Sorge, bei der Darstellung des Sachverhaltes nachteilige Aussagen zu treffen.

Dennoch sollten Ärzte bei ihren Stellungnahmen auch den allgemeinen Zustand eines Patienten erwähnen, sofern er darauf hindeutet, dass der Mensch eine von dem „Regelfall“ abweichende Lebensdauer zu erwarten gehabt hätte. Wenn medizinische Gesichtspunkte dafür vorgetragen werden können, ist es auch geboten, dass die beklagte Seite ein Gutachten zur fiktiven Lebenserwartung beantragt. Die Einsparungen können erheblich sein, wie das Urteil des Oberlandes­gerichts (OLG) Brandenburg zeigt.
 

Der Fall

Eine Frau leidet seit Jahren an chronischer Gefäßerkrankung und Stammfettsucht, ihr wird im Krankenhaus – allerdings ohne eine medizinische Indikation – eine Niere entnommen. In der Folge kommt es zu Wundheilungsstörungen und Nekrosen, die einen Revisionseingriff erfordern. Doch die Frau stirbt mit 49 Jahren an einem septischen Multiorganversagen. Ihre Erben klagen auf Schadenersatz gegen einen behandelnden Arzt wegen unzureichender Aufklärung und fehlerhafter Behandlung.
 

Das Urteil

Das Landgericht Frankfurt/Oder gibt der Klage statt und spricht der Erbengemeinschaft unter anderem eine monatliche Geldrente bis zum fiktiven 75. Lebensjahr (im Kalenderjahr 2035) der Verstorbenen zu.

Der beklagte Arzt geht in Berufung. Seine Argumentation: Die Frau wäre ohnehin innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre an ihrer Grunderkrankung gestorben. Einen Grund für eine Rente bis zum fiktiven 75. Lebensjahr gebe es nicht.
 

Die Berufung

Das OLG Brandenburg in zweiter Instanz folgt dieser Einschätzung im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH).3 Bei der Abschätzung einer fiktiven Rest-Lebenserwartung müsse neben der allgemeinen Lebenserwartung der Personengruppe, der der Betroffene angehöre, die besondere Lebens- und Gesundheitssituation des Menschen betrachtet werden.

Deshalb holt das OLG ein Gutachten zur fiktiven Lebenserwartung der Erblasserin ein. Der Sachverständige ermittelt angesichts der schweren Vorerkrankungen der Frau die Zahl von 60 Jahren. Mit Rücksicht auf die Unsicherheiten in der Prognose korrigiert der Senat in seinem Urteil die fiktive Lebenserwartung nach oben auf 65 Jahre. Er bleibt damit aber immer noch zehn Jahre unter dem Maß des Landgerichts in der Vorinstanz und 22 Jahre unter den Werten der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes.
 

Die individuellen Umstände würdigen

Genau diese Würdigung aller individuellen Umstände werde von den Gerichten in ihrer Rechtspraxis oft übergangen, stellt Prof. Dr. Martin Rehborn in seiner Kommentierung des Urteils fest (GesR 2019, 694-695). Auf allgemeines statistisches Material wie die Sterbetafel dürfe aber nur dann Bezug genommen werden, wenn es keine Anhaltspunkte für Abweichungen von allgemeinen Erkenntnissen gebe.

Auch der Kläger müsse das bei seiner Antragstellung beachten, in der Rechts­praxis sei das aber keineswegs immer der Fall. Der Beklagte, also Arzt oder Krankenhausträger, kenne aber in der Regel die gesundheitliche Konstitution des Patienten und könne so gegebenenfalls medizinische Gründe dafür vorbringen, die eine Abweichung von Lebensdauer oder Leistungsfähigkeit gegenüber dem „Regelfall“ rechtfertigten. Dementsprechend müssten auch die Beklagten ein Gutachten dazu beantragen.
 

Fazit

Ein Hinweis auf die allgemeine Disposition eines Patienten in ärztlichen Stellungnahmen ist kein „Kleinreden“ eines Fehlers oder gar ein Abwälzen von Schuld. Es hilft vielmehr, letztlich ein gerechtes Urteil zu finden.

Miriam Stüldt-Borsetzky
miriam.stueldt-borsetzky@egas.de


1 OLG Brandenburg, Urteil vom 26. August 2019, Az.: 12 U 217/17.
2 Siehe dazu Artikel „Second Victims im Gesundheitswesen“, Seite 11.
3 BGH, Urteil vom 27. Januar 2004, Az.: VI ZR 342/02.