Wohnmedizin und gesunde Architektur – das ist nichts, worüber wir viel in den Medien erfahren, aber etwas, das tagtäglich unser Leben beeinflusst. Denn wir alle wohnen irgendwo und sind einer gesund- oder krankmachenden Architektur ausgesetzt. Aber lassen sich bei bestehenden Wohnungen die Erkenntnisse zum gesunden Wohnen überhaupt noch anwenden? Ja, sagt Manfred Pilgramm im Interview. Er ist promovierter Mediziner und Professor im Fachbereich Architektur an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe.
 

Informationsdienst: Wie kamen Sie als Hals-Nasen-Ohrenarzt zu „Wohnmedizin und Gesunder Architektur“?

Manfred Pilgramm:
Im Januar 2005 kamen innerhalb einer Stunde zwei Mütter mit ihren Kindern in unsere Praxis. Bei beiden Kindern blutete immer wieder die Nase. Dem einen Kind hatte ich bereits mehrmals die Gefäße in der Nase verödet. Die Mutter sagte: „Sie kokeln da immer rum, aber es blutet trotzdem weiter. Außer wenn der Junge bei seinem Vater am Starnberger See ist, dann blutet nichts.“ Bei dem anderen Jungen hörte das Nasenbluten nur auf, sobald er auf Norderney war. Das war für mich frustrierend: Wir haben damals viel operiert, aber die Patienten wurden nicht gesund. Immer wieder Nasenbluten bei den Kindern, immer wieder entzündete Nasennebenhöhlen bei den Erwachsenen.
 

Was haben Sie getan, um diesem Frust entgegenzuwirken?

Manfred Pilgramm:
Zufällig kam zur selben Zeit von der Ärztekammer ein Angebot zur „Zusatzqualifikation Umweltmedizin“, 80 Stunden Theorie, 80 Stunden Praktikum. Da habe ich mich angemeldet. Im Praktikum bin ich mit einem Baubiologen mitgegangen, in die einzelnen Wohnungen, die zum Teil sehr verraucht waren. Dort habe ich Leute angetroffen, die ich bereits mehrfach operiert hatte. Da ist bei mir der Groschen gefallen, da begann mein neues Denken.
 

Was war denn das Neue?

Manfred Pilgramm:
Früher haben wir Menschen, die sich in ihrem Zuhause nicht wohlgefühlt haben, auf „P+P“ untersucht, Pilze und Psyche: Entweder haben sich die Mitbewohner nicht verstanden oder es war irgendetwas verpilzt. Heutzutage wissen wir, dass es viele andere Ursachen in einer Wohnung gibt, die gesundheitliche Probleme bewirken können. Dazu haben wir auch eine Checkliste entwickelt.1)
 

Was gehört zum Beispiel dazu?

Manfred Pilgramm:
Es gibt harte und weiche Faktoren. Zu den weichen gehören Geräusche, Licht, Farben, Gerüche. Zu den harten Faktoren zählen Gifte, chemische Ausdünstungen aus Möbeln und Wänden oder – und das ist das Schlimmste – Rauchen, wenn Kinder im Haus wohnen. Das ist echte Körperverletzung. Richtiges Lüften ist darum enorm wichtig. Es verhindert, dass sich schädliche Stoffe zu konzentriert in der Raumluft halten, dass die Räume feucht werden und sich Schimmelpilze einnisten. Meine Empfehlung: drei Mal am Tag fünf bis acht Minuten Stoßlüften.
 

Wie findet man heraus, ob wirklich das Wohnumfeld Ursache für Beschwerden ist?

Manfred Pilgramm:
Typische Symptome sind Augenbrennen und -tränen, Nasenlaufen, trockener Rachen, immer wieder auftretende Kopfschmerzen und Juckreiz auf der Haut. Wenn man die Wohnung für längere Zeit verlässt, zum Beispiel im Urlaub, merkt man, ob die Beschwerden abflachen – ein guter Indikator. Heutzutage kann man noch nicht alles nachweisen, aber 10 bis 15 Prozent der Personen, die sich wohnmedizinisch krank fühlen, sind es auch.
 

Alles, was Sie aufgezählt haben, gehört in den Bereich Innenarchitektur. Zu den harten Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen, zählen aber sicher auch bauliche Gegebenheiten.

Manfred Pilgramm:
Es wurde mal ein neues Klinikum gebaut, da hatte der Architekt in allen Zimmern die Toiletten vergessen, das beeinflusst die Gesundheit natürlich enorm (lacht). Es wurden dann außen kleine gelbe Zimmer angebaut, jedes war eine Dusche mit WC. Es gibt aber auch ganz unspektakuläre Baufehler, zum Beispiel Winkel und Ecken in einem Krankenhaus oder Altenheim, die für die Putzkräfte schlecht zugänglich sind. In denen sammeln sich auf Dauer unhygienische Dinge an, die krankmachen können. Wichtig ist, dass sich die Bewohner in ihrem Wohnumfeld wohlfühlen. Ein Architekt muss darum den Auftraggeber verstehen, seine Inhalte für die Planung aufnehmen, die beiden müssen eine gewisse Einheit bilden. Das Einfachste und Grundsätzliche ist: Ein Haus darf nicht gefährlich konstruiert sein.
 

Wie haben sich Ihre Erkenntnisse aus der Wohnmedizin auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Manfred Pilgramm:
Wir operieren viel weniger. Ich führe ausführlichere Aufnahmegespräche mit den Patienten, unterstütze sie dabei, das Rauchen zu beenden, ordne Allergietests an und schaue, ob man durch Änderung der Wohnumstände wohnmedizinische Symptome angehen kann. Am Anfang führten weniger Operationen zunächst zu weniger Geldeinnahmen. Aber letztlich haben wir viel mehr Vertrauen gewonnen, zufriedene Patienten und dadurch mehr Patienten.
 

Altenheime, Krankenhäuser, Häuser für Wohngruppen – die Verantwortlichen haben natürlich ein Interesse daran, dass ihre Bewohner oder Patienten gar nicht erst oder nicht zusätzlich krank werden. Worauf sollten die achten, um gesundes Wohnen zu ermöglichen?

Manfred Pilgramm: In Kliniken gibt es spezialisierte Mediziner, Hygieniker, die wissen natürlich, worauf sie bei den Abläufen achten müssen: an jedem Bett, vor Operationen, mit den Speisen usw. In Altenheimen sollte zudem nicht alles totenstill sein, da ist es sogar gut, wenn etwas knarrt oder sonstige angenehme Geräusche abgibt, damit die alten Menschen einen Schalleindruck haben und keine Lärmüberempfindlichkeit entwickeln. Die Konstrukteure solcher Häuser müssen natürlich bei der Planung und beim Bauen Fallstricke bei den Wegen und Aufzügen vermeiden, für genügend Licht und ausreichend Belüftung sorgen.

Eine HNO-Klinik zum Beispiel hat Skulpturen von Ohren, Nasen und Hälsen aufgestellt. Darüber reden die Leute: „So sieht doch keine Nase aus!“ und geraten in muntere Streitgespräche. Dadurch vergessen sie für eine Weile ihre Schmerzen. Das klingt banal, aber schon das hilft bei der Genesung.
 

Sie halten Vorträge, lehren an der Hochschule, arbeiten in Ihrer HNO-Praxisklinik: Was ist Ihre Kernerkenntnis beim Thema Wohnmedizin und gesunde Architektur?

Manfred Pilgramm:
Medizin kann zunehmend besser Krankheiten erkennen und heilen. Architektur und Innenarchitektur können Krankheiten verhindern.
 

Apropos heilen: Was ist aus den beiden Kindern mit dem Nasenbluten geworden, durch die Sie erst auf das Thema gesundes Wohnen gekommen sind?

Manfred Pilgramm:
Die eine Mutter ist zusammen mit dem Sohn und ihrem neuen Partner in ein Haus gezogen, welches vor Einzug durch einen Baubiologen genau untersucht wurde. Die andere Familie ist ins Voralpenland gezogen. Dem inzwischen jungen Mann geht es – soweit ich weiß – sehr gut.

Das Gespräch führte Antje Borchers aus der Unternehmenskommunikation.
antje.borchers@ecclesia.de


Prof. Dr. Manfred Pilgramm ist habilitierter Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und führt zusammen mit Kollegen eine Praxisklinik in Detmold. Zudem lehrt er an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe (OWL) „Wohnmedizin und Gesunde Architektur“ im Fachbereich Architektur und Innenarchitektur.

Wohnmedizin ist eine Wissenschaft, die sich prophylaktisch, diagnostisch und therapeutisch mit dem Wohnumfeld eines Menschen befasst. Denn Konstruktion und Materialien können gesundheitsgefährdendes Potenzial aufweisen. Gesunde Architektur beschäftigt sich mit den Mitteln und Möglichkeiten der Architektur, um zu verhindern, dass Bewohner eines Hauses oder einer Wohnung erkranken.


1) Unter www.checkliste-gesundeswohnen.de bietet die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe eine Checkliste an, mit der sie gesundheitsfördernde und -schädigende Einflüsse eines Wohnobjekts erfragt. Die Liste wendet sich an den interessierten Laien, zum Beispiel an Käufer/-innen und Mieter/-innen eines Wohnobjektes, und soll als Bewertungs- und Informationsinstrument dienen. Am Ende erfolgt eine Auswertung.