Das Problem ist jedem Operationsteam bekannt: Tupfer, Tücher, Nadeln ... – kurzum alles, das bei einer Operation zeitweise in den Körper des Patienten eingebracht wird, muss vor Verschluss der Operationsöffnung wieder vollständig entfernt werden. Hierauf wird vor, während und nach einer Operation streng geachtet. Doch trotz aller Bemühungen um die Sicherheit kommt es vor, dass bei einer Operation Fremdkörper unbeabsichtigt im Patienten belassen werden. Johannes Jaklin, Fachanwalt für Medizinrecht in unserer Unternehmensgruppe, berichtet über einen solchen Fall, mit dem sich das Oberlandesgericht Stuttgart befasst hat.

Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart vom Dezember 2018 zeigt die Haftungs- und Beweisgrundsätze für einen solchen Fall auf. Es ist zugleich ein Beleg für die besondere Bedeutung der Handlungsempfehlungen des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS).1
 

Der Fall

Im Jahr 2014 unterzieht sich die damals 26-jährige Patientin aufgrund einer Nierenbeckenabgangsstenose und zur Entfernung eines Nierensteins einer laparoskopischen Pyeloplastik. Postoperativ kommt es zunächst zu Fieberschüben und im weiteren Verlauf zu abdominalen Schmerzen. Knapp einen Monat später fällt auf einem Computertomographie-Bild eine 1,9 Zentimeter lange, gerade Nadel auf, die im Körper verblieben war. Einen weiteren Monat später wird die Patientin darüber informiert. Eine Entfernung ist bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht erfolgt.
 

Die Entscheidung

Das OLG Stuttgart hat in zweiter Instanz zu klären, ob der Patientin aufgrund der zurückgelassenen Nadel ein Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld zusteht. Es gibt dem Anspruch statt. Dabei stellt es fest:  Ärzte müssen alle möglichen und zumutbaren Sicherungsvorkehrungen treffen, damit kein Fremdkörper unbeabsichtigt im Operationsgebiet zurückbleibt. Es gehöre zu den chirurgischen Grundprinzipien, sämtliche Instrumente nach einer Operation auf ihre Vollständigkeit zu überprüfen.
 

Herleitung des Facharztstandards

Diese, den ärztlichen Standard beschreibenden Maßgaben kann und darf das Gericht aufgrund fehlender medizinischer Kompetenz jedoch keineswegs selbst treffen. Vielmehr greift es dabei korrekterweise auf verschiedene fachkundige Quellen zurück. Zum einen holt der Senat ein medizinisches Sachverständigengutachten ein. Nach dessen Feststellungen erforderte der Facharztstandard auch zum Zeitpunkt der Operation im Jahr 2014 Zählkontrollen. Im Weiteren sieht das Gericht diese Ansicht auch durch einen Fachartikel gestützt.2 Eine darin beschriebene Umfrage kommt zu dem Ergebnis, dass 53 Prozent der Teilnehmenden regelhaft prä-, intra- und auch postoperativ Zählkontrollen durchführen. Vor dem Verschluss von Hohlorganen oder großen Wundhöhlen fanden in 93 Prozent der befragten Abteilungen Zählkontrollen statt, nach dem Peritonealverschluss in 88 Prozent der Abteilungen.

Zu guter Letzt beruft sich das Gericht auch auf die im Jahr 2010 veröffentlichte Empfehlung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V. mit dem Titel „Jeder Tupfer zählt“.3 Es verweist darauf, dass diese Handlungsempfehlung zur Vermeidung unbeabsichtigt belassener Fremdkörper im Operationsgebiet prä-, intra- und postoperative Zählkontrollen vorsehe. Zudem sei sie sehr detailliert gehalten, bei der Entstehung seien zahlreiche Fachgesellschaften und Berufsverbände involviert gewesen, und das Bundesministerium für Gesundheit habe die Schrift gefördert. Das Gericht sieht es darum sogar als befremdlich an, wenn man sich im Jahr 2014 noch darauf berufe, eine unterlassene Zählkontrolle stelle keinen Behandlungsfehler dar.
 

„Vollbeherrschbares Risiko“

Um eine solche Entscheidung treffen zu können, musste sich das Gericht zunächst zwingend mit der Frage befassen, ob denn durch die Ärztinnen und Ärzte die geforderten Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung eines vergessenen Fremdkörpers missachtet worden waren und somit ein Behandlungsfehler vorliegt oder nicht. Grundsätzlich ist bei dieser Frage die Patientenseite in der Beweispflicht. Dafür muss festgestellt werden, dass notwendige Schutzmaßnahmen unterlassen worden sind. Das gelingt der Patientenseite in der Regel aber nur selten.

Deshalb konnte in diesem Fall das Gericht eine Haftung nur mit Hilfe der Beweislastumkehr in Form des vollbeherrschbaren Risikos aussprechen. Grundsätzlich wird in der Arzthaftung nicht schon aus dem ausbleibenden Erfolg oder aus dem Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung geschlossen, da die Vorgänge im lebenden Organismus auch vom besten Arzt nicht vollständig beherrscht werden können. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn es sich um Risiken handelt, die durch den Klinikbetrieb gesetzt werden und deren Verwirklichung durch die ordnungsgemäße Gestaltung des Betriebs ausgeschlossen werden können und müssen. Das unbemerkte Zurücklassen eines Fremdkörpers im Operationsgebiet wird von der Rechtsprechung genau diesem vollbeherrschbaren Bereich der Klinik zugeordnet. Nur deshalb musste in diesem Fall nicht die Patientenseite das Unterbleiben der Sicherheitsvorkehrungen, sondern die Arztseite deren vollständige Einhaltung beweisen, was ihr nicht gelungen ist.
 

Kein grober Behandlungsfehler

Interessanterweise sieht das OLG in dem Fehlverhalten aber keinen groben Behandlungsfehler. Zwar könne – so das Gericht – das Zurücklassen eines Instrumentes im Einzelfall einen groben Behandlungsfehler darstellen. Hier seien jedoch nicht sämtliche Sicherheitsvorkehrungen unterlassen worden. Der OP-Dokumentation hat das Gericht entnommen, dass immerhin eine Instrumentenkontrolle vorgesehen war, mag sie sich auch nicht auf Nadeln erstreckt haben. Auch war die Nadel relativ klein, weshalb dem Verstoß ein geringeres Gewicht beigemessen wird.

Für die Entscheidung des Gerichts wirkt sich dies derart aus, dass nicht alle von der Patientin behaupteten Gesundheitsbeeinträchtigungen in die Schmerzensgeldbemessung einfließen. Mit der im Körper verbliebenen Nadel sind bereits jetzt Beeinträchtigungen für die Patientin verbunden. Weitere Auswirkungen sind ungewiss, daher spricht das Gericht der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro zu.
 

Fazit

Schutz und Sicherheit einer Patientin und eines Patienten werden von der Rechtsprechung nach wie vor an erste Stelle gestellt. Deshalb werden alle zumutbaren Sicherheitsvorkehrungen verlangt, um zu vermeiden, dass ein Fremdkörper unbeabsichtigt zurückbleibt. Dazu gehört auch die konsequente Zählkontrolle. Dass sich das Gericht auf die Handlungsempfehlungen des APS bezieht, betont deren Stellenwert für die Bestimmung des ärztlichen Standards. Deren Kenntnis und Beachtung kann deshalb nur empfohlen werden. Dies gilt nicht zuletzt, weil in diesen Fallkonstellationen das Haftungsrisiko durch die Anwendung des Grundsatzes des vollbeherrschbaren Risikos deutlich erhöht ist.

Johannes Jaklin
johannes.jaklin@ecclesia-gruppe.de


1 OLG Stuttgart, 20.12.2018, AZ: 1 U 145/17.
2 „Postoperative Zählkontrollen sind nicht standardisiert“, Deutsches Ärzteblatt 2012, Heft 8, s. A 372ff.
3 https://www.aps-ev.de/handlungsempfehlungen/ (abgerufen am 9. Januar 2020).