Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Mai 2019 ein vorangegangenes Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Köln aufgehoben. Damit wurde der Ehefrau eines in der Zwischenzeit verstorbenen Patienten die Möglichkeit eingeräumt, ihren Anspruch auf Schadenersatz durchzusetzen.1 Die Ehefrau gab an, bei ihrer Begleitung der von Fehlern geprägten stationären Behandlung ihres Mannes selbst schwere psychische Leiden entwickelt zu haben. Die BGH-Richter befanden, dass die Geschehnisse durchaus geeignet waren, einen Schadenersatzanspruch der Ehefrau zu begründen. Weshalb das so ist und welche Folgen sich daraus ergeben, erläutert Miriam Stüldt-Borsetzky, Juristin für Medizinrecht in unserer Unternehmensgruppe.

Schwerwiegende Gesundheitsverläufe und komplikationsreiche Behandlungen sind für Angehörige der betroffenen Patienten nicht leicht zu ertragen. Sie gehen ganz unterschiedlich damit um: Manche fügen sich stoisch dem Schicksal und versuchen, den Patienten zu unterstützen. Andere lesen alles vermeintlich Wichtige bei Google nach und gehen dann mit Fragen und Forderungen auf die Ärzte und Pflegenden zu. Doch egal, welche Wege die Angehörigen suchen, um die Situation für sich zu bewältigen, sie sind alle unterschiedlich stark belastbar. Manche mehr, manche ungleich weniger. Ärzte und Pflegekräfte bekommen so nicht selten ungewollt einen „zweiten Patienten“ an die Hand und müssen dabei eine Gratwanderung bestehen.
 

Der Fall

Bei dem Patienten ist eine Darmspiegelung mit Entfernung von Darmpolypen vorgenommen worden. Am Folgetag wird eine Darmperforation festgestellt, die in einer Bauchfellentzündung mündet. Während die Darmperforation nach Aussage von Gutachtern noch eine schicksalhafte Komplikation der Koloskopie war, wird die sich daran anschließende Behandlung als verspätet und unter Verwendung einer falschen Operationstechnik als behandlungsfehlerhaft bewertet. Der Patient schwebt über mehrere Wochen in akuter Lebensgefahr. Er erhält schließlich im Wege einer vergleichsweisen Einigung ein Schmerzensgeld in Höhe von 90.000 Euro.

Die Ehefrau des Patienten führt eigene massive psychische Beeinträchtigungen in Form eines depressiven Syndroms mit ausgeprägten psychosomatischen Beschwerden und Angstzuständen auf diese Erlebnisse zurück. Sie fordert Schadenersatz in Form von Schmerzensgeld und Ersatz von Erwerbsausfallschaden sowie Haushaltsführungsschaden.
 

Das Urteil

Das erstinstanzliche Landgericht und auch das nachfolgende Oberlandesgericht weisen die Klage ab. Sie erkennen zwar beide, dass die zum „Schockschaden“ entwickelten und für Unfallereignisse im eigentlichen Sinne geltenden Grundsätze auch für eine fehlerhafte ärztliche Behandlung anzuwenden seien. Auch bejahen sie, dass rein psychische Erkrankungen durchaus eine den gesetzlichen Grundlagen (§ 823 I Bürgerliches Gesetzbuch) entsprechende Gesundheitsverletzung darstellen können. Sie verneinen den Anspruch aber letztlich, weil sie davon ausgehen, dass sich hier eine Gefahr realisiert habe, die dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen sei. Juristisch formuliert sei also der „Schutzzweck der verletzten Norm“ nicht betroffen. Ein Schädiger soll nach diesem Grundsatz nicht für solche Schäden haften, die den Betroffenen auch sonst in seinem Leben üblicherweise treffen könnten.
 

Die Revision

Der BGH folgt den Ausführungen der Vorinstanzen insoweit, als er ebenfalls bekräftigt, dass Unfallereignisse und ärztliche Behandlungsfehler als auslösende Momente eines Gesundheitsschadens gleichzusetzen seien. Ebenfalls sieht er psychische Schäden als geeignet für einen Ersatzanspruch an, wenn diese pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene bei schwerer Verletzung oder Tod eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.

Er verneint aber, dass sich hier ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht habe. Es gäbe, so der BGH, nur bestimmte Fallkonstellationen, in denen dies anzunehmen sei. Dazu gehört, wenn der Behandlungsfehler „in neurotischem Streben nach Versorgung und Sicherheit“ lediglich zum Anlass genommen wird, den Schwierigkeiten und Bestrebungen des Erwerbslebens auszuweichen. Entsprechendes gilt, wenn das schädigende Ereignis eher Bagatellcharakter hat und daher so geringfügig ist, dass ein Missverhältnis zu den psychischen Reaktionen anzunehmen wäre. Auch die Angehörigen, die dem geschädigten Patienten persönlich nicht nahestehen, fallen unter die Konstellation des allgemeinen Lebensrisikos und können keinen Anspruch durchsetzen.
 

Die Konsequenzen

Ein naher Angehöriger, der ein erwiesen behandlungsfehlerhaftes Geschehen eines Patienten begleitet und daraufhin einen psychischen Gesundheitsschaden erleidet, kann Schadenersatz beanspruchen. Dieser Schadenersatz kann den üblichen Grundsätzen zufolge neben einem Schmerzensgeld auch einen Erwerbsausfallschaden sowie Haushaltsführungsschaden umfassen und deshalb insgesamt sehr teuer werden.

Es gibt nur zwei wirklich lohnende Ansatzpunkte, die verfolgt werden sollten, weil sie eine Zahlungspflicht möglicherweise verhindern können:

Zunächst sollte auf angemessene Darlegung und Nachweise eines Gesundheitsschadens geachtet werden. Angehörige (und ihre Anwälte) neigen dazu, einfache Belege/Atteste als ausreichend anzusehen. Dem ist auf das Schärfste zu widersprechen, Gutachten sind dringend zu empfehlen.

Zudem muss durch ein fundiertes Gutachten der kausale Zusammenhang zwischen dem behandlungsfehlerhaften Geschehen um den Patienten und dem psychischen Schaden des Angehörigen nachgewiesen werden, denn die persönlichen Erlebnisse eines Traumas, Erinnerungen daran und die psychischen Folgen liegen keineswegs auf der Hand.
 

Fazit

Die Gratwanderung sollte so bedacht wie nur möglich erfolgen. Vielleicht kann Angehörigen, die unter den gegebenen Umständen offenkundig selbst sehr leiden, schon früh professionelle Hilfe vermittelt werden. Soweit Angehörige bei einem schwerwiegenden Verlauf aber gut mit der Situation umgehen und sie bewältigen können, kann eine kurze Notiz über die Begegnung in den Krankenunterlagen reichen, um die später möglicherweise notwendigen Abwägungen in die richtige Richtung zu lenken.

Miriam Stüldt-Borsetzky
miriam.stueldt-borsetzky@egas.de


1 Urteil vom 21.05.2019, Az. VI ZR 299/17.