Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Es wurde 2016 verabschiedet und tritt in vier Reformstufen von 2017 bis 2023 in Kraft. Daniel Schuster, Projektleiter für das BTHG-Projekt in Bethel, begrüßt das Gesetz, weil Ansprüche Betroffener gestärkt werden.

Worin sehen Sie die größte Chance des Gesetzes?

Daniel Schuster: Das Bundesteilhabegesetz stellt den Leistungsanspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe in den Mittelpunkt. Wir Anbieter in der Eingliederungshilfe sind gefordert, die Assistenzleistungen anders zu denken, als wir es bisher konnten und getan haben, nämlich individueller und personenzentrierter, und so das Leben nachhaltig zu verbessern.

Der Vergangenheit angehören sollen zum Beispiel Wohngruppen mit 15, 20, 30 Bewohnerinnen und Bewohnern. Es soll nur noch kleine Wohneinheiten geben, dezentral verteilt über einen Ort.

Daniel Schuster: Ja. Der Grundgedanke ist, dass sich die Leistungen in der Sozialen Teilhabe an den Bedürfnissen eines ganz normalen Lebens orientieren.

Wer in Ihrem Bekanntenkreis möchte mit vier, sechs oder acht Menschen zusammenleben, die er womöglich nicht einmal kennt? Wichtig ist doch, dass die eigene Vorstellung von einem guten Leben umgesetzt werden kann. Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung rücken in den Fokus. Damit wird die eigene Wohnung der Ausgangspunkt und nicht mehr eine Einrichtung.

Nun wurden durch das neue Gesetz aber weder die Finanzen noch das Personal erhöht. Wie kann man trotzdem Menschen auch dezentral angemessen betreuen?

Daniel Schuster: Für ein Wohnangebot muss geprüft werden, welche Notwendigkeiten und Bedürfnisse die Menschen haben und wie Unterstützung organisiert werden kann. Es muss eine bedarfsgerechte Präsenz von Mitarbeitenden auch in der Nacht sichergestellt werden, ebenso besondere Ausstattungsmerkmale wie etwa eine umfassende Barrierefreiheit. Projekte, die modellhaft zeigen, wie dies bei Menschen gerade mit hohem Unterstützungsbedarf gelingen kann, gibt es unter anderem in den Betheler Angeboten. Auch die grundsätzlichen Anforderungen an die Ausgestaltung solcher Angebote sind formuliert. Was fehlt, sind die klaren Rahmenbedingungen für die konkrete Umsetzung und ausreichend passender Wohnraum.

Das BTHG sieht vor, dass für Leistungen der Eingliederungshilfe immer ein Gesamtplan erstellt werden muss. Es geht um die Bereiche Teilhabe, Bildung und Arbeit. Es müssen neue Fachkonzepte geschrieben werden. Wie können Einrichtungen vorgehen?

Daniel Schuster: Die Eingliederungshilfe dreht sich hier um 180 Grad, und alle Beteiligten müssen sich darauf einstellen. Zunächst stehen die Betroffenen, also die Leistungsberechtigten, im Mittelpunkt. Ihr jeweiliger Bedarf sowie die Ziele und Wünsche werden ermittelt.

Das wird dokumentiert, in Leistung übersetzt und in einem Gesamtplan festgehalten. Dieser Plan ist die Grundlage für die konkreten Unterstützungsleistungen und wird regelmäßig überprüft.

Neue, individualisierte Assistenzangebote in der eigenen Wohnung zu schaffen, ist die eine der Herausforderungen. Die andere: die bestehenden Angebote umzustellen. Was gehört zukünftig in ein Fachkonzept hinein, was nicht? Früher wurde in Konzepten eher das „Warum etwas getan wird“ beschrieben, weniger die konkrete Leistung. Da fehlte dann oft die Grundlage für Abstimmungen und Verhandlungen mit den Leistungsträgern. Jetzt müssen Konzepte die Leistung differenzierter beschreiben. Also: Was bekommt jemand in welcher Qualität, um am Alltagsleben, an Bildung, Kultur und Sport teilhaben zu können?

Wie entgeht man dabei der Gefahr, sich im Klein-Klein zu verlieren oder aber das Ganze zu grob zu beschreiben?

Daniel Schuster: Mein Rat für bestehende Einrichtungen ist: Schauen, welche Leistungen jetzt schon erbracht werden. Die müssen nun im Konzept hinsichtlich Qualität, Ausstattung, Personal, Wohnmilieus gut beschrieben werden. Was im Konzept nicht dargestellt ist, wird man als Leistungserbringer später kaum refinanziert bekommen. Das klingt nach viel Arbeit, aber es ist eine riesige Chance, Wohnsituationen zu individualisieren und nachhaltig zu verbessern, weil die dafür erforderlichen Ressourcen dargestellt sind und verhandelt werden können.

Das Bundesteilhabegesetz dient der Organisationsentwicklung, bei der alle Beteiligten einbezogen werden müssen. Bei Bethel.regional haben wir dafür das breit angelegte Projekt „BTHG bewegt“ aufgelegt, das ich federführend begleite.

Daniel Schuster, Pädagoge und Soziologe, arbeitet seit fünf Jahren als Projektleiter für das Bundesteilhabegesetz-Projekt. Seit Anfang des Jahres ist er in dieser Funktion in Bethel tätig, der größten diakonischen Einrichtung Europas.