Die Ampel-Regierungskoalition hat im Koalitionsvertrag festgelegt, dass ein Härtefallfonds das bestehende Arzthaftungsrecht ergänzen soll. Er soll für diejenigen eine Hilfeleistung bieten, die im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung einen Schaden erlitten haben, bei ­denen aber eine eindeutige Fehlerzuordnung und Kausalität nicht möglich beziehungsweise nicht ­gegeben ist. In einem Zeitungsinterview hat der neue Patientenbeauftragte der Regierung, Stefan Schwartze, am 21. Februar 2022 gesagt: „Wir sollten das schnell hinbekommen.“ Doch der ­Gedanke ist nicht unumstritten. Ein Kritiker ist Prof. Dr. Gerhard Wagner von der Humboldt-­Universität zu Berlin. Er fürchtet eine Unterminierung des Haftungsrechts mit weitreichenden Folgen – für Patienten wie für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Prof. Dr. Wagner erläutert seine Sicht im Interview.

Herr Professor Wagner, an sich erscheint die Idee eines Härtefallfonds doch sinnvoll. Der Fonds ermöglicht Patientinnen und Patienten eine Entschädigung, bei denen die Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch knapp verfehlt werden. Was besorgt Sie an dieser Idee?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Ich glaube nicht, dass ein solcher Fonds das bestehende System des Arzthaftungsrechts nur für sehr wenige Fälle ergänzen würde – quasi im Weg einer Billigkeitsentschädigung. Vielmehr spricht meines Erachtens vieles dafür, dass ein solcher Fonds das bestehende System unterhöhlen wird – mit insgesamt eher negativen Folgen.
 

Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Das klassische Haftungsrecht hat zwei Funktionen: den Ausgleich für einen Schaden und die Präventionsfunktion, in der durch die drohende Haftung darauf hingewirkt werden soll, dass Schäden möglichst vermieden werden. Aber bleiben wir zunächst beim Kompensationsprinzip.

Befürworter einer Fondsidee betonen, dass hier die besondere Stärke eines Härtefallfonds liege. Immerhin könnten die Anspruchsvoraussetzungen großzügiger definiert werden, und damit kämen mehr Leute in den Genuss einer Entschädigung.
 

Das hört sich doch auch sehr positiv an.

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Ich halte es aber nicht für realistisch. Denn Fonds dieser Art, die einen vollen Schadenausgleich gewähren, werden von Ansprüchen regelrecht geflutet. In Neuseeland ist das versucht worden, aber schon nach wenigen Jahren war der Fonds nicht mehr zu finanzieren. Für Deutschland gilt die österreichische Lösung als Vorbild. Auch in unserem Nachbarland wirkt der Fonds nur subsidiär, also ergänzend, nicht die Haftung ersetzend. Auf eine Leistung besteht kein Anspruch, sie wird nach Ermessen gewährt und ist auf maximal 100.000 Euro begrenzt. Wobei bei der Obergrenze noch Unterschiede von Bundesland zu Bundesland bestehen. Auch in Deutschland würde die Entschädigung gedeckelt werden. Das bedeutet: Viele Personen bekommen möglicherweise eine Leistung aus dem Fonds, die aber ihre Schäden nicht voll kompensiert und in manchen Fällen eher der berühmte Tropfen auf den heißen Stein ist. Und niemand wird das bekommen, was er haben möchte, nämlich den vollen Ausgleich des Schadens.

Gleichwohl würde das herkömmliche Individualhaftungsrecht geschwächt und schleichend ersetzt. Denn viele potenziell Geschädigte werden das von der Politik verlangte unbürokratische Verfahren des Fonds einem teuren und im Ausgang ungewissen Zivilprozess vorziehen. In Österreich, das schon seit zwei Jahrzehnten einen solchen Fonds hat, werden rund 90 Prozent der gestellten Anträge ohne weitere Sachverhaltsaufklärung zugelassen. Die Patientin oder der Patient ist nicht gehalten, vor dem Gang zum Fonds den Rechtsweg gegen den Schädiger zu beschreiten. Das kann auch nicht anders sein, denn müsste eine potenziell geschädigte Person sich vorab durch alle Instanzen klagen, wäre der Fonds eine Härte für die Betroffenen, kein Härtefallfonds.
 

Weshalb ist die Sachverhaltsaufklärung aus Ihrer Perspektive so wesentlich?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Ärztinnen und Ärzte wollen sicher nur das Beste für ihre Patientinnen und Patienten, aber es sind auch nur ganz normale Menschen, die vor Fehlern nicht gefeit sind. Sie reagieren deshalb auch auf haftungsrechtliche Anreize. Außerdem reagieren auch die Krankenhäuser darauf. Es wäre betriebswirtschaftlich unsinnig, es nicht zu tun. Sie verbessern ihre Anstrengungen im Interesse der Patientensicherheit auch deswegen, um nicht in die Haftung zu geraten. Die Präventionsfunktion im Haftungsrecht ist aber darauf angewiesen, dass Fälle aufgeklärt und Fehlerverantwortlichkeiten klar öffentlich benannt werden. Eine Fondslösung hingegen steht explizit für eine unbürokratische Entscheidung, nicht für eine umfangreiche vorherige Aufklärung. Das konterkariert den Präventionsgedanken und kann damit Patientinnen und Patienten schaden. Außerdem bringt es eine Schieflage in den Wettbewerb der Krankenhäuser zum Nachteil derjenigen, die sich schon bisher intensiv mit Qualitätsverbesserungen auseinandergesetzt haben. Die gebotene Aufklärung der Schadensszenarien ließe sich natürlich über das Ordnungswidrigkeitenrecht, das Verwaltungs- oder Strafrecht herstellen. Das hätte aber den Aufbau neuer Strukturen zur Folge, die potenzielle Vorteile eines ­Entschädigungsfonds bei den administrativen Kosten aufzehren würden.
 

Welche Art der Finanzierung wird denn für den Fonds vorgesehen?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Die Vorschläge, die derzeit auf dem Tisch liegen, gehen von einer Steuerfinanzierung aus. Alternativ dazu könnten – wie in Österreich – die Versicherten,  also die Patientinnen und Patienten, selbst den Betrag zahlen. Denkbar wäre auch ein Umlageverfahren, bei dem die Leistungserbringer im Gesundheitswesen die notwendigen Mittel aufbringen. Das scheint momentan aber nicht in Erwägung gezogen zu werden.
 

Also argumentieren Sie, dass ein Fonds zwar keine große Wirkung für den einzelnen Betroffenen entfalten könnte, aber die Steuerzahler bzw. die Versicherten viel Geld kostet?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Zumindest sollte man die Kostenseite und die Kosten-Nutzen-Relation sehr genau in den Blick nehmen. Ein Beispiel: Die Verwaltungskosten sind natürlich bei einem Fonds geringer als die Kosten, die bei einem Gang durch alle gerichtlichen Instanzen anfallen. Gleichzeitig hat aber die Fondsverwaltung weder bei den zu verteilenden Beiträgen noch bei den eigenen Verwaltungskosten echte Anreize, Kostendisziplin zu üben, denn sie ist ja umlagefinanziert.
 

Aber muss man nicht letztlich sagen, dass ein Härtefallfonds an sich dennoch eine gute Idee ist, weil er Patientinnen und Patienten eine Kompensationsmöglichkeit für eingebüßte Lebensqualität verschafft, die nicht prozessieren können oder wollen?

Prof. Dr. Gerhard Wagner: Sicherlich verdienen Menschen, die zum Beispiel infolge von Komplikationen bei einer Operation ihr normales Leben nicht mehr leben können, unsere Unterstützung. Die Sozialversicherungen sind dafür geschaffen worden. Sie fragen nicht danach, durch welchen Umstand ein bestimmter Schaden eingetreten ist, sondern orientieren sich an den Bedürfnissen des Betroffenen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu stellen, ob Medizinalgeschädigte darüber hinaus eine weitergehende Entschädigung verdienen. Für ein solches Privileg gibt es meines Erachtens keine tragfähige Begründung. Eine Gerechtigkeitslücke, die durch einen Härtefallfonds geschlossen werden müsste, gibt es nicht. Menschen, die einen Schaden durch ärztliche Fehler erleiden, stehen nicht besser oder schlechter da als andere Personen, die einen schweren Personenschaden davongetragen haben.

 


Persönlich:

Prof. Dr. Gerhard Wagner (LL.M.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem das Haftungsrecht in europäischer und internationaler Perspektive, die alternative Streitbeilegung sowie die ökonomische Analyse des Rechts. Als Sachverständiger hat er zum Thema Härtefallfonds bereits in der vergangenen Legislaturperiode gegenüber dem Ausschuss für Gesundheitspolitik des Bundestags Stellung genommen und dazu 2021 in der Zeitschrift Medizinrecht (MedR) publiziert.