Eine geringe Anzahl an Schadenersatzansprüchen aus Behandlungsfehlern bedeutet auch einen geringeren Schadenaufwand. In Zeiten, in denen sich immer mehr Krankenhäuser mit Eigentragungsmodellen beschäftigen, kommt dem klinischen Risikomanagement zur Schadenvermeidung auch unter ökonomischen Gesichtspunkten eine wachsende Bedeutung zu. Dr. Peter Gausmann, Geschäftsführer der GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung, und Ansgar Kentrup, Leiter der Produktentwicklung Haftpflicht in unserer Unternehmensgruppe, beleuchten dieses Thema.

„Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“; der Grundsatz, Schadenfälle möglichst zu vermeiden, ist so alt wie die Medizin selbst. Als er um 50 nach Christus aufgestellt wurde, steckte die Heilkunde noch in den Kinderschuhen. Heute stehen uns eine hochentwickelte Diagnostik, Therapie und Pflege zur Verfügung – aber auch die moderne Medizin ist nicht völlig risikofrei. Deshalb sind zahlreiche Mechanismen eingebaut worden, um Schäden zu vermeiden und damit die Hochleistungsmedizin unserer Zeit nicht vom eingangs zitierten Grundsatz zu trennen.

Der Leitsatz „non nocere“ dient auch in der Gegenwart natürlich in allererster Linie dem Schutz und der Sicherheit der Patienten; gleichzeitig erhält das Prinzip eine ökonomische Komponente. Weniger Schäden heißt weniger Ausgaben für die Regulierung von Schadenersatzansprüchen nach Behandlungsfehlern. Gerade in Zeiten, in denen sich immer mehr Krankenhäuser mit der Eigentragung eines Teils ihrer Haftung als Alternative zum Risikotransfer auf den Versicherungsmarkt befassen beziehungsweise solche Eigenversicherungslösungen realisieren, kommt dieser ökonomischen Funktion der Schadenvermeidung eine wachsende Bedeutung zu.

Die wirkungsvollste Stellschraube für die Vermeidung von Schäden stellt ein optimiertes klinisches Risikomanagement dar, das hier im Mittelpunkt der Betrachtungen steht. Die Bewertung des klinischen Risikomanagements und die daraus resultierende Optimierung sind damit die wesentlichen Fundamente, auf denen ein wirtschaftlich erfolgreiches Eigentragungsmodell aufgebaut werden kann.

Bei der Überprüfung des klinischen Risikomanagements spielen drei Bereiche die entscheidenden Rollen:

  1. Der Check der Präventionsmaßnahmen für bekannte kritische Handlungsfelder, wie die sogenannten „Never Events“.
  2. Der Praxischeck durch klinische Provokations- oder „Stresstests“ der Sicherheitsbarrieren.
  3. Die Evaluation der Funktionalität der installierten Berichtssysteme für kritische Ereignisse.
     

1. Der Check der Präventionsmaßnahmen

Die interne Erfassung von Schadenfällen, die Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, die Statistiken der medizinischen Fachgesellschaften und andere Quellen mehr haben über die Jahre dazu geführt, dass wir heute relativ klarsehen, wie Schadenfälle entstehen und wie man sie wirksam vermeiden kann. In der anglo-amerikanischen Patientensicherheitsforschung ist daraus die Liste der sogenannten „Never Events“ entstanden – das sind Ereignisse, die vollständig beherrschbare Risiken darstellen, die schwerwiegende Folgen haben und die durch entsprechende Präventionsmaßnahmen verhindert werden können, also niemals vorkommen sollten. In Deutschland hat das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) 2021 eine an unser Gesundheitssystem adaptierte „SEVer“-Liste entwickelt. Das an das englische Wort „safer“ angelehnte Akronym bedeutet: schwerwiegende Ereignisse, die wir sicher verhindern wollen. Zu denken ist da beispielsweise an die Fehlapplikation einer Bluttransfusion, eine Unterzuckerung bei bekanntem Diabetes oder das Hinterlassen eines intraoperativ notwendigen Hilfsmittels im OP-Gebiet.

In einer Bewertung des klinischen Risikomanagements muss zunächst geprüft werden, wie die Präventionsmaßnahmen für diese „Never Events“ beschaffen sind. Jede Klinik sollte diese Risiken wirklich sicher unter Kontrolle haben.

Ferner spielt die sektorenübergreifende und interprofessionelle Dokumentation der medizinisch-pflegerischen Leistungen eine wesentliche Rolle im Kontext von Eigentragungslösungen – insbesondere zur Abwehr unberechtigter Schadenansprüche. Es empfiehlt sich daher, die Dokumentationsmethodik auch im Hinblick auf die beweisrechtliche Funktion zu überprüfen und zu optimieren. Die zunehmend digitalisierte Leistungserfassung hat die beweisrechtliche Funktion der Dokumentation sicher verbessert, gleichwohl birgt die häufig vorzufindende Komplexität der Krankenhausinformationssysteme die Gefahr der Unübersichtlichkeit und der nur selektiven Nutzung im therapeutischen Team.

Gleiches gilt für die Patientenaufklärung, die stets umfassend und patientenindividuell sein muss. Fehler in der ordnungsgemäßen Patientenaufklärung (und ihrer Dokumentation) gehören zu den voll vermeidbaren Risiken.

Die Funktionalität dieser Präventionssysteme lässt sich über Audits ermitteln. Die Auditoren sollten dazu einen klinischen Hintergrund haben, denn um Sicherungssysteme in praxi prüfen zu können, ist es sinnvoll, temporär in den therapeutischen Teams mitzuarbeiten und die dabei gesammelten Erfahrungen und Eindrücke durch Interviews und Gruppengespräche qualitativ zu vertiefen.
 

2. Der Provokationstest

Eine weitere Methode zur Bewertung des Patientensicherheitsniveaus stellt ein Provokations- oder „Stresstest“ dar, bei dem die Auditorin oder der Auditor in enger Abstimmung mit der Klinikleitung auch ohne Ankündigung an Arbeitsprozessen teilnimmt. Die Prüfperson schlüpft in die Rolle eines Patienten und stellt sich beispielsweise nachts mit unklaren Beschwerden in der Notaufnahme vor oder löst im Rahmen einer Simulation einen Notfallalarm aus. Solche Verfahren sind in anderen risikoreichen Branchen seit langem üblich und haben sich bewährt.

Wichtig bei dieser Methodik ist, dass es nicht darum geht, handelnde Personen in der simulierten Situation zu diskreditieren. Das Ziel des Experiments lautet immer, das System zu testen, nicht einzelne Menschen. Denn schließlich geht es darum, eine konstruktive Sicherheitskultur zu befördern und ein entsprechendes Feedback zu geben, statt einer destruktiven „blame culture“ das Wort zu reden. So wird der Provokationstest zu einem Ausdruck der Wertschätzung, an dessen Ende in der Regel sehr positive Ergebnisse stehen.
 

3. Die Belastbarkeit der installierten Fehlerberichtssysteme

Die dritte Ebene der Standortbestimmung für das klinische Risikomanagement betrifft die bereits etablierten Systeme der Fehlererkennung. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, wie wirkungsvoll Vorrichtungen wie das CIRS in der Realität des einzelnen Hauses oder der einzelnen Abteilung tatsächlich sind: Werden diese Systeme wirklich genutzt, ist ihre Bedeutung verinnerlicht worden? Wie wird mit Komplikationen und kritischen Ereignissen umgegangen, gibt es Mortalitäts- und Morbiditätskonferenzen? Welche Wirkungen haben Evaluationen nach schwerwiegenden Ereignissen, wie etwa Reanimationen von Patienten? Schließlich: Welche Rolle spielt das Beschwerdemanagement im Klinikalltag? Denn letztlich funktioniert ein Risikomanagement nur dann auch im Alltag gut, wenn es in den Teams ein Bewusstsein für dessen Bedeutung gibt.

Das ist für die Sicherheitskultur in einem Krankenhaus und damit für die tatsächliche Realisierung von Vorteilen für die Patientensicherheit, das Image der Einrichtung in der Öffentlichkeit und die Ökonomie von eminenter Wichtigkeit.

Der erste und der dritte Aspekt dieser Aufzählung sind entscheidend, um das klinische Risikomanagement bewerten und Empfehlungen zur Verbesserung geben zu können. In Kombination mit weiteren Recherchen, die das spezifische Risikoprofil des jeweiligen Hauses vervollständigen, ergibt sich das Bild über die Leistungsfähigkeit des vorhandenen klinischen Risikomanagements und die Handlungsfelder, die noch gestärkt werden müssen. Diese Erkenntnisse fließen in das Sicherheits- und Risikomanagement-Gutachten ein, mit dem die Klinikleitung Transparenz über die Situation erhält und daraus gegebenenfalls ökonomische Vorteile ziehen kann.

Der Wert einer solchen Standortbestimmung für die Patientensicherheit im Sinne des eingangs zitierten Prinzips ergibt sich von selbst.

 

Dr. Peter Gausmann
peter.gausmann@grb.de

Ansgar Kentrup
ansgar.kentrup@ecclesia.de

 


Eigentragungsmodelle

Die Prämien in der Heilwesen-Haftpflichtversicherung sind seit 2012 erheblich angestiegen. Als Reaktion auf die Entwicklung bietet der Markt mit Eigentragungsmodellen alternative Absicherungskonzepte, mit denen sich die Gesamtrisikokosten für Kliniken unter Umständen senken lassen.

Die Bandbreite beginnt beim Selbstbehalt pro Versicherungsfall, angeboten werden auch Selbstbehalte für alle Schäden eines Versicherungsjahres oder eine Kombination beider Varianten. Bei all diesen Lösungen bleibt die Prüfung der Haftpflichtfrage und die Abwehr unberechtigter Ansprüche eine Aufgabe des Versicherers. Eine Self-Insured Retention (SIR, eine Art der Selbstversicherung) bedeutet hingegen, dass diese Dienstleistungen des Versicherers bis zur Ausschöpfung der vereinbarten Eigentragung an den Versicherungsnehmer übergehen.

Eigentragungsmodelle ermöglichen den Krankenhäusern in der Regel Liquiditätsvorteile und unter Umständen bilanzielle Vorteile. Das klinische Risikomanagement spielt eine wichtige Rolle, weil es die Schadenfrequenz positiv beeinflusst. Ferner wächst in einem Eigentragungsmodell der Einfluss des Krankenhauses auf den Umgang mit Schadenersatzansprüchen der Patientinnen und Patienten und damit zum Beispiel auf die Frage, ob und unter welchen Umständen eine wirtschaftliche Abwicklung – insbesondere durch gütliche Einigungen wie einen Vergleich – angestrebt wird.

Auf der anderen Seite können aus diesen Modellen auch Risiken für Liquidität und bilanzielle Tragfähigkeit erwachsen oder steuerrechtliche Probleme entstehen. Auch sind die langfristigen Auswirkungen für Rückstellungen, Schadenabwicklungsverpflichtungen und Regelungsnotwendigkeiten für einen Eigentragungs-Exit zu berücksichtigen.

Ihre stärksten Vorteile spielt die Eigentragung bei hohen Frequenzschadenlasten aus, also einer hohen Zahl von Schäden mit niedrigen Schadenhöhen. Zu beachten ist aber, dass gerade für die Heilwesen-Haftpflichtversicherung ein hohes Spätschadenrisiko charakteristisch ist und dass nur wenige große Schäden für den überwiegenden Teil des Gesamtschadenaufwandes verantwortlich sind.

Die grundsätzliche ökonomische Entscheidung für oder gegen ein Eigentragungsmodell sollte ausschließlich auf Basis einer Total-cost-of-Risk-Analyse mit prädiktiver Ausrichtung getroffen werden, wobei die zahlreichen rechtlichen- und ökonomischen Implikationen individuell zu bewerten und mit individuellen Lösungen zu versehen sind.

Als Ecclesia Gruppe betreuen wir mehr als 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser, daher steht uns sehr belastbares Zahlenmaterial zur Verfügung. Unsere Total-cost-of-Risk-Analyse bietet eine Tiefenanalyse mit Bezug auf die Kennzahlen des jeweiligen Krankenhauses. So sind wir in der Lage, das Haftpflichtversicherungs-Modell zu identifizieren, das die vermutlich geringsten Gesamtrisikokosten aufweist.

Vor der Entscheidung für ein Eigentragungsmodell steht aber ein komplexer Beratungsprozess, der alle Felder abdecken muss – von rechtlichen, steuerlichen und bilanziellen Fragen bis hin zum klinischen Alltag. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen müssen in enger Zusammenarbeit valide und belastbare Aussagen erarbeiten.