Sonntagabends in einem Pflegeheim: Eine Bewohnerin fühlt sich plötzlich unwohl und benachrichtigt die Pflegekraft. Die Frau klagt über Mattigkeit, indifferente Schmerzen und Schwindel. Der Hausarzt ist nicht erreichbar. Was tun? Die Pflegekraft entscheidet sich für das Naheliegende: Sie alarmiert einen Rettungswagen, der die Bewohnerin in das nächstgelegene Akutkrankenhaus fährt. Dort stellt sich heraus: Es handelt sich um keine schwerwiegende Erkrankung, die Einweisung wäre nicht notwendig gewesen. 

Gerade an Wochenenden und in den Abendstunden werden vermehrt Einlieferungen von Patientinnen und Patienten aus Pflegeheimen in die Zentralen Notaufnahmen registriert. Das hat die Uniklinik der RWTH Aachen festgestellt. Ein Modellprojekt im Rheinland soll dem entgegenwirken. Denn: „Bis zu 40 Prozent dieser Einweisungen sind vermeidbar“, sagt Priv.-Doz. Dr. Jörg Christian Brokmann, Leiter der Zentralen Notaufnahme an der Aachener Uniklinik. 

Unter Federführung des Aachener Mediziners und seines Teams hat ein Konsortium aus Universitärer Medizin, Krankenkassen, Pflegezentren und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein das Modellprojekt „Optimal@NRW“ ins Leben gerufen. Es wird mit rund 15 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert und läuft noch bis 2024. Ziel des Projektes ist es, über einen intersektoralen Ansatz in der Akutversorgung Pflegebedürftiger die Qualität der Versorgung merkbar zu verbessern, tatsächliche krisenhafte Entwicklungszustände der Pflegebedürftigen schneller zu erkennen, aber auch nicht notwendige Krankenhauseinweisungen zu verhindern. 

Wie funktioniert das im Einzelnen? „Optimal@NRW“ verbessert die Akutversorgung in den 24 in das Projekt eingebundenen Alten- und Pflegeheimen im Rheinischen Revier, insbesondere außerhalb der regulären Praxisöffnungszeiten oder wenn der Hausarzt der Bewohnerinnen und Bewohner verhindert ist. Klagt eine Bewohnerin oder ein Bewohner über akute Beschwerden, können die Pflegekräfte zunächst die Arztrufzentrale NRW (Telefon 116117) anrufen. Diese in Duisburg beheimatete Einrichtung nimmt eine medizinische Ersteinschätzung vor und hat mehrere Möglichkeiten für die notwendigen Hilfestellungen. 

Die Stunde der „NäPa(Z)“

Eine davon ist die Telesprechstunde mit Ärztinnen und Ärzten der Uniklinik RWTH Aachen. Den Pflegekräften in den Heimen steht dafür ein telemedizinischer Visitenwagen zur Verfügung. Er ist ausgestattet mit Bildschirmen, Kamera, Mikrofon und Internetverbindung, sodass sich Bewohnerin oder Bewohner, Ärztin oder Arzt und Pflegekraft sehen und unterhalten können. Außerdem können mit dem Visitenwagen Vitalparameter erhoben werden. Über ein spezielles Stethoskop ist sogar das Abhören der Lunge aus der Ferne möglich. Die erhobenen Befunde werden automatisch in einer zentralen elektronischen Patientenakte gespeichert und können somit auch für den Hausarzt einsehbar sein, mit dem eng kooperiert wird.

Braucht die Pflegekraft vor Ort mehr Unterstützung, schlägt die Stunde der „NäPa(Z)“. Das Kürzel steht für „Nicht-ärztliche Praxisassistenten mit Zusatzaufgaben“. Diese Mitarbeitenden fahren dann zum jeweiligen Pflegeheim, um das Personal vor Ort mit ärztlich übertragbaren Leistungen zu unterstützen. 

Im besten Fall stellt sich auf diese Art und Weise heraus, dass die Patientin nicht ins Krankenhaus eingewiesen werden muss. Wenn allerdings die Konsultation eine schwerwiegendere Erkrankung wahrscheinlich sein lässt, kommt die normale weitere Rettungskette in Gang. 

Das Projekt umfasst ferner ein Frühwarnsystem. Über tägliche Messungen von Puls, Blutdruck, Temperatur und Sauerstoffsättigung können bei Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtungen Einschätzungen des Gesundheitszustandes vorgenommen werden. Erkennt das System eine sich abzeichnende Verschlechterung, werden automatisch die Pflegekraft und der diensthabende Telearzt in der Zentralen Notaufnahme der Uniklinik Aachen informiert. Die Ursache für die Veränderung kann so frühzeitig abgeklärt werden.

Von den Ideen und ihren Umsetzungen profitieren zunächst die Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Jede unnötige Krankenhauseinweisung, die auf diese Weise verhindert wird, erspart ihnen Stress. Die Pflegekräfte bekommen zusätzliche Sicherheit bei Entscheidungen, die Notaufnahmen und Rettungsdienste werden ebenfalls entlastet. 

Eine Win-Win-Win-Situation? Die Gesamtevaluation des Projektes übernimmt die Universität Bielefeld, neben welcher noch weitere Institutionen mit verschiedenen wissenschaftlichen Schwerpunkten an der Auswertung mitwirken. Hier sind verschiedene Fachbereiche der Uniklinik Aachen, das Human-Computer Interaction Center der RWTH Aachen, das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, die Universität Maastricht und das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland zu nennen. Zudem haben die Aachener ihr Projekt im In- und Ausland bereits vorgestellt; die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Claudia Moll, selbst gelernte Altenpflegerin, schaute sich „Optimal@NRW“ ebenfalls vor Ort an. 

„Optimal@NRW“ läuft noch bis März 2024. Priv.-Doz. Dr. Jörg Christian Brokmann: „Wir gehen aktuell davon aus, dass durch „Optimal@NRW‘ etwa 20 bis 30 Prozent weniger inadäquate Transporte in Krankenhäuser stattfinden und dass wir so die Zahl der Krankenhaustage für die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen signifikant reduzieren können.“