„Im Namen des Volkes“, so wird in unserem Land Recht gesprochen. Tatsächlich fällen in Gerichtsprozessen nicht nur hauptamtliche Richterinnen und Richter Urteile, auch „ganz normale“ Menschen aus dem Volk mit völlig anderen Berufen wirken an der Rechtsprechung mit: die Schöffinnen und Schöffen. So wie Karin Hinke, gelernte Krankenschwester, seit 20 Jahren Risiko-Beraterin bei der GRB und Mediatorin. Sie gehört zu den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern am Landgericht Bielefeld. In ihrem Beruf bei der GRB berät sie Krankenhäuser zum Thema Risikomanagement und Patientensicherheit. Ihr Schwerpunkt sind Analysen von Schadenfällen, die tragisch ausgegangen sind oder bei denen ein Patient verstorben ist. Sie arbeitet mit den Mitarbeitenden die Fälle auf – „nicht, um nach der Schuld zu suchen, sondern nach den Ursachen, damit solch ein Ereignis nicht noch einmal eintritt“, sagt Karin Hinke. Dafür ist sie viel im Land unterwegs. Und nun noch ein Ehrenamt als Schöffin.
„Ich hatte schon immer Interesse an dieser Aufgabe. Und als vor zwei Jahren die Stadt Bielefeld einen Aufruf im Radio startete, dass Schöffen gesucht werden, da habe ich mich beworben“, berichtet sie. Das ging per Online-Formular. Nur wenige Daten waren gefragt: Beruf, Adresse, Alter. Kein Lebenslauf. „Man hört danach erst mal nichts. Nur wer genommen wird, bekommt Bescheid.“ Den bekam sie: einen Berufungsbescheid.
Für vier Jahre ist Karin Hinke von einem Ausschuss gewählt worden und entscheidet nun bei Gericht gemeinsam mit anderen über Schuld und Unschuld sowie über eine zu verhängende Strafe. Sie hat dieselben Rechte und Pflichten wie Berufsrichterinnen und -richter und nimmt an der gesamten Hauptverhandlung und Urteilsfindung in einem Prozess teil.
Besondere Qualifikationen musste sie nicht mitbringen. „Es gibt eine theoretische Unterweisung vor dem ersten Einsatz“, sagt Karin Hinke. Da wird zum Beispiel besprochen, „dass wir Schöffen keine Akteneinsicht erhalten, wir bekommen nichts Geschriebenes zu Gesicht.“ Die Laienrichter sollen sich ein unvoreingenommenes Bild machen. Vor Beginn einer Verhandlung informiert der Vorsitzende Richter die Schöffen aber über die wichtigsten Fakten: Worum geht es eigentlich? Was wird dem Beschuldigten zur Last gelegt?
Für Karin Hinkes ersten Fall waren vier Verhandlungstage angesetzt. Es ging um einen 27-Jährigen, der wegen Drogenmissbrauchs erneut vor Gericht stand. Zudem hatte er durch die Drogen eine psychische Störung mit Wahnvorstellungen entwickelt und zum wiederholten Mal seine Eltern bedroht, aber auch Passanten mit dicken Steinen beworfen. Seine Medikamente gegen die Störung wollte er nicht einnehmen. Bisherige Maßnahmen hatten somit nicht gefruchtet. Was sollte nun mit dem Mann geschehen? Sollte er in die Forensik, also in den Maßregelvollzug, eingewiesen werden? Oder sollte nochmals der Weg über die engmaschige psychiatrische Therapie erfolgen – begleitet von einer verlässlichen Medikation durch den behandelnden Psychiater, der ihm in definierten Zeitabständen eine Depotspritze gibt?
Der Vorsitzende Richter band die Schöffen während der Verhandlung ausdrücklich in das Geschehen ein: „Haben Sie noch eine Frage an den Angeklagten oder den Staatsanwalt?“
Auch bei den Beratungen zwischendurch im Besprechungsraum waren die ehrenamtlichen Richter gefragt: „Wie ist Ihre Meinung zu dem heutigen Fall?“, wollte der Richter wissen. Karin Hinke berichtet: „Der Beschuldigte selbst hat so gut wie nichts gesagt. So konnten wir unseren Eindruck nur aus den Beschreibungen anderer – des Arztes, des Betreuers – gewinnen. Der Richter aber hat uns ermutigt: ‚Hören Sie auf Ihr Gefühl und entscheiden Sie aufgrund Ihrer Werte und Erfahrungen!‘“ Danach stellte er den Schöffen die möglichen weiteren Schritte vor und welche Chancen er darin sah.
Letztlich fand Karin Hinke es nicht schwierig, zu einer Einschätzung zu gelangen, da sie als gelernte Krankenschwester durchaus vertraut damit ist, wie psychische Störungen einen Menschen beeinflussen. „Es passte natürlich prima, dass ich mich im Thema auskannte. Aber das wird nicht extra so organisiert, das war Zufall.“
Schöffen und Richter entschieden einstimmig, dass der Beschuldigte mit klaren Auflagen weiter auf freiem Fuß leben darf: Er sollte seine Medikamente nach dem Plan des Psychiaters bekommen und regelmäßig den Kontakt zum Arzt und zu seinem Betreuer halten. Wenn das nicht klappt, so behielt es sich das Gericht vor, würde der Mann ohne eine weitere Verhandlung direkt in den Maßregelvollzug kommen. Karin Hinke: „Alle am Tisch vermuteten: Das wird bald passieren. Dennoch: Wir wollten ihm eine Chance geben. Er muss sie dann natürlich auch annehmen.“
Als Schöffin muss man akzeptieren, wenn jemand letztlich andere Wege geht, als das Gericht es vorschlägt. Das ist eine Erkenntnis, die Karin Hinke auch in ihre Arbeit als Mediatorin bei der GRB mitnimmt. Sie hat diese Erfahrung im Hinterkopf, wenn sie einen Streit zweier Parteien mit einem Vorschlag zur Güte zu einem versöhnlichen Ende bringen will. „Es ist die Entscheidung des Kunden, was er daraus macht. Es ist ein Geben und Nehmen. Man muss akzeptieren, wenn das Gegenüber nicht nehmen will, was man ihm gibt.“
Antje Borchers
antje.borchers@ecclesia.de
Drei Sätze zum Vervollständigen
- Beruf und Ehrenamt ergänzen sich, weil ich unterschiedliche Impulse erhalte und so keine Langeweile auftritt.
- Worüber ich mich immer noch freue, dass es Überraschungen und unvorhersehbare Ereignisse gibt.
- Ich bin mit Leib und Seele interessiert an Menschen – ihrem Werdegang, ihren Einstellungen – und höre gerne zu.
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