Ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) hat Mitte Januar breite Aufmerksamkeit in den Medien gefunden. Der BGH hatte geurteilt, dass ein Pflegeheim einen an Demenz erkrankten Bewohner nicht in einem Raum im Obergeschoss unterbringen darf, der zudem einfach zu öffnende Fenster enthält, wenn bei dem Bewohner erkennbare Selbstschädigungsgefahr besteht. Bedeutet dieses Urteil eine Verschärfung der Sorgfaltsanforderungen für Pflegeheime? Nein, meint unser Haftungsrechtexperte Franz-Michael Petry. Der BGH habe vielmehr nur die bestehende Rechtslage konsequent angewendet.

Der Fall

Ein Mann war im Februar 2014 in ein Pflegeheim gekommen, weil er hochgradig dement war. Gleichzeitig litt er unter psychisch-motorischer Unruhe, war desorientiert und neigte zur Selbstgefährdung.

Das Heim brachte ihn in einem Zimmer im Dachgeschoss unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die einfach geöffnet werden konnten. Vor den Fenstern stand ein Heizkörper, dann folgte die Fensterbank, sodass die Fenster wie über Stufen zu erreichen waren. Am 27. Juli 2014 kletterte der Mann zu den Fenstern empor, öffnete eines davon und stürzte ab. An seinen schweren Verletzungen starb er zweieinhalb Monate später.

Die Witwe verklagte den Heimbetreiber daraufhin auf ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 Euro, weil trotz der Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung die notwendigen Schutzmaßnahmen nicht erfolgt seien. Aber sowohl das Landgericht Bochum als erste Instanz als auch das Oberlandesgericht Hamm, das sich als Berufungsinstanz mit dem Fall beschäftigte, kamen zu anderen Schlüssen.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts war nicht erkennbar, dass das Heim seine Obhutspflichten verletzt hatte. Der Sturz habe sich im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, der grundsätzlich der Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen sei. Es habe keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gegeben, dass mit einem solchen Verhalten des Mannes ernsthaft zu rechnen gewesen sei. Deshalb seien auch keine Sicherungsmaßnahmen an den Fenstern erforderlich gewesen.

Das BGH-Urteil

Das sah der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs völlig anders. Er hat der Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil stattgegeben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.

Ein Heimbetreiber habe die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts die Bewohnerinnen und Bewohner vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschten, so die Karlsruher Richter in ihrer Begründung. Wie genau das auszusehen habe, müsse im Einzelfall entschieden werden. Maßgebend sei dafür, ob wegen der körperlichen und geistigen Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners ernsthaft damit gerechnet werden müsse, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. „Dabei muss auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen“, urteilte der BGH. Dementsprechend dürfe bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Entsprechend seien Sicherungsmaßnahmen notwendig gewesen, das OLG habe eine fehlerhafte Bewertung vorgenommen.

Die Einordnung

„Die Entscheidung stellt keine Veränderung der aktuellen Rechtsprechung dar“, ordnet Franz-Michael Petry den Richterspruch ein. Der Spezialist für Haftungsrecht und Geschäftsführer in unserer Unternehmensgruppe erinnert daran, dass Heimbetreiber immer verpflichtet sind, im Rahmen des Möglichen potenzielle Gefahren für ihre Bewohnerinnen und Bewohner in Abhängigkeit von deren Zustand möglichst auszuschließen. Auch im vorliegenden Fall sei das ohne Zweifel erforderlich gewesen. Dazu hätte entsprechend auch gehört, die Fenster abzusichern. Durch das Urteil ändere sich also an den Sorgfaltsanforderungen nichts (Az: III ZR 168/19, Urteil vom 14. Januar 2021).