Dem klinischen Risikomanagement wird vor allem eine hohe Bedeutung zugesprochen, wenn es darum geht, Patientenschäden zu vermeiden. Dazu werden seine Instrumente, beispielsweise die OP-Sicherheitscheckliste oder das Patientenidentifikationsarmband, im Klinikalltag konsequent angewendet. Doch Risikomanagement ist auch geeignet, um zur Bindung von Mitarbeitenden beizutragen, wie Risikoberaterin Vera Triphaus ausführt.

Ein systematisch angewandtes Risikomanagement berücksichtigt neben den klinischen auch die wirtschaftlichen und operativen Risiken der „Unternehmung Krankenhaus“. Betrachtet man diese nicht klinischen Risiken, wird ein Problem immer deutlicher: der Personal- und Fachkräftemangel in den Krankenhäusern. Es fehlt an Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten. Sind sie nicht ausreichend vorhanden, müssen Operationen verschoben oder Intensivbetten temporär geschlossen werden. Dadurch verschlechtert sich auch die Einnahmenseite des Krankenhauses.
 

Babyboomer und Personalnotstand

Die Auswirkungen des demografischen Wandels tragen zu diesem Personalnotstand bei. Die Krankenhäuser profitierten in den vergangenen Jahren von der Tatsache, dass die Babyboomer-Generation ausreichend Köpfe zur Bewältigung der Arbeit stellte. Doch diese Generation befindet sich an der Schwelle zum Renteneintritt und verlässt bis spätestens Mitte der 30er Jahre den Arbeitsmarkt. Die nachfolgende Generation hat neue, erweiterte oder schlichtweg andere Vorstellungen vom Berufs- und Privatleben, zum Beispiel hinsichtlich des wöchentlichen Arbeitsumfangs. Waren im Jahr 2011 nur 10,9 Prozent der Chirurginnen und Chirurgen in Teilzeit beschäftigt, stieg deren Zahl bis 2017 auf 20,9 Prozent an. Dies erklärt sich nicht allein durch einen höheren Anteil an Frauen in dieser Berufsgruppe, denn der stieg im selben Zeitraum nur um 3,4 Prozent.1

Eine gute Personalstrategie

Als Risikoberaterinnen und Risokoberater gehen wir in viele Krankenhäuser und begegnen dort täglich der Frage: Wie können wir das Strukturproblem „Personalnot“ lösen? Unsere Erfahrung als GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH lautet: Werden Instrumente des klinischen Risikomanagements auch in der Personalpolitik eines Hauses eingesetzt, können Mitarbeitende gewonnen, ans Haus gebunden und bewährte Kräfte langfristig gehalten werden. Auch dem frühzeitigen Ausstieg wird vorgebaut. Dies setzt voraus, dass sich die Personalpolitik von einer administrativen Tätigkeit hin zu einer proaktiven Gestaltung weiterentwickelt. Zur Umsetzung einer solchen Personalstrategie kann der im Risikomanagement angewendete Top-Down- und Bottom-Up-Ansatz angewendet werden. Übertragen auf die Personalpolitik bedeutet das: Die oberste Leitung setzt die Maßnahmen zur Personalgewinnung und -bindung um, das Personal selbst nimmt an den Maßnahmen teil und akzeptiert sie. Im Sinne des vierstufigen Regelkreises des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses „Plan, Do, Check, Act“ (PDCA-Zyklus) darf die Evaluation der festgelegten und umgesetzten Maßnahmen nicht fehlen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Umsetzung weiterer Maßnahmen ein, sodass alle – top-down und bottom-up ebenso wie horizontal – an der kontinuierlichen Verbesserung arbeiten.

Maßnahmen des Risikomanagements in die Personalpolitik übertragen

Eine proaktive Personalpolitik unter Zuhilfenahme des Risikomanagements kann folgendermaßen gestaltet werden:

1. Ist-Situation analysieren

Am Beginn eines Verbesserungsprozesses steht die Analyse der Ist-Situation. Neben der Auswertung von personalbezogenen Kennzahlen wie Fehlzeiten und Fluktuationsrate wird das im Risikomanagement bewährte Instrument der Mitarbeitendenbefragung eingesetzt. Bei klinischen Risiken sollen damit mögliche Sicherheitsdefizite in der Patientenversorgung aufgedeckt werden. Im Kontext der Mitarbeitendenbindung können die Arbeitsplatzzufriedenheit und Arbeitsplatzperspektiven für die nächsten zehn Jahre erfragt werden. Mitarbeitende sind in der Lage, gut und präzise auf Probleme, Herausforderungen und Verbesserungsmöglichkeiten ihres Arbeitgebers hinzuweisen.

2. Änderungswünsche identifizieren, priorisieren und bearbeiten

Die Erkenntnisse einer solchen Befragung zeigen Stärken und Schwächen der Abteilung und des Krankenhauses auf. Nicht alle Schwächen sind behebbar. Beispielsweise lässt sich eine bessere Bezahlung bei Tarifbindung nicht realisieren. Andere Wünsche der Mitarbeitenden, zum Beispiel Kinder- oder Angehörigenbetreuung oder ausreichende Parkmöglichkeiten können identifiziert, priorisiert und bearbeitet werden. Zudem erhält die Krankenhausleitung Informationen über mögliche Abwanderungstendenzen oder Wünsche nach Arbeitszeitreduzierungen. Die Erkenntnisse geben Hinweise darauf, wie groß eine eventuelle Personallücke sein wird – und in welcher Höhe damit das Budget für Honorarkräfte eingeplant werden muss. Ebenfalls können nach Hospitationen und bei Kündigungen entsprechende Fragen in den Abschlussgesprächen gestellt werden. 

3. Stärken beibehalten und ausbauen

Aber auch von den Mitarbeitenden genannte Stärken, beispielsweise das Angebot betrieblicher Gesundheitsförderung, sollten erhalten und ausgebaut werden – und zwar so, dass die Mitarbeitenden das als Wertschätzung erkennen und honorieren. 
Peter und Hasselhorn stellen in ihrem Modell „Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe“2 dar, dass die Motivation des/der Einzelnen zur Erwerbsteilhabe abhängt von seiner Arbeitsfähigkeit, Gesundheit und physiologischen Alterung sowie von der Arbeit selbst. Sie zeigen auf, dass bei bestehender finanzieller Absicherung allein die  Motivation des/der Einzelnen über die Erwerbsteilhabe entscheidet. 
Faktoren, die die Motivation beeinflussen, können aktiv gestaltet werden, beispielsweise, indem die physische und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz gefördert wird. Neben der physischen Arbeitsplatzgestaltung kann der psychischen Belastung vorgebeugt werden, zum Beispiel durch die gute Gestaltung von Führung. Dadurch lassen sich Fehlzeiten und die frühzeitige Aufgabe der Erwerbstätigkeit vermindern.

4. Hierarchien abbauen, Arbeitsklima verbessern 

Krankenhaushierarchien abzubauen, ist eines der Ziele des Risikomanagements, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Denn starre Krankenhaushierarchien sind für Fehler in der Patientenversorgung verantwortlich. Wie kommt das? Aufgrund ihrer Stellung trauen sich Mitarbeitende nicht, auf Fehler oder Verstöße von in der Hierarchie über ihnen stehenden Mitarbeitenden hinzuweisen. So kann es zu – vermeidbaren – Behandlungsfehlern kommen. Auch für die Personalpolitik sind flache Hierarchien ein erstrebenswertes Ziel. Denn eine Kommunikation unter den Mitarbeitenden, die unabhängig von der fachlichen Qualifikation gleichberechtigt und respektvoll verläuft, trägt zu einem guten Arbeitsklima, zur Mitarbeiterbindung und zur Vermeidung von psychischen Belastungen bei. Flache Hierarchien sind somit ein motivationsbeeinflussender Faktor.

Aufbau von flachen Hierarchien 

Aber auch die Arbeit selbst ist in flachen Hierarchien für die Mitarbeitenden interessant. Aus Sicht des Risikomanagements braucht es eindeutige Verantwortungsbereiche und Zuständigkeiten, in denen der Handlungsspielraum der einzelnen Person in der Patientenversorgung definiert ist. So weiß der Assistenzarzt, wann er die Fachärztin hinzuziehen muss. Übertragen auf das Konzept der gesunden Führung heißt das, der oder die einzelne Mitarbeitende hat mit dem oder der Vorgesetzten Leitplanken abgestimmt, innerhalb derer eigenständige Entscheidungen getroffen werden. Die Leitplanken werden regelmäßig neu festgelegt. Damit erhalten die Beteiligten einen Handlungsspielraum. Die oder der Vorgesetzte erwartet die korrekte Bewältigung der Aufgaben innerhalb der Leitplanken, und der oder die Mitarbeitende Lob und Anerkennung nach Erledigung. Das wirkt sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit aus und entlastet die Führungskraft. Mitarbeitende und Vorgesetzte befinden sich demnach in einem kontinuierlichen Dialog. Die Führungsaufgabe lautet, die Beziehung kontinuierlich zu gestalten. Starre Hierarchien werden dadurch abgebaut.3 Auch die Arbeit in Projektgruppen kann diesen Abbau unterstützen. In einer Gruppe werden die bestehenden Hierarchien aufgehoben, jedes Mitglied ist gleichgestellt. Die gleichberechtigte Kommunikation kann geübt und in den Klinikalltag übertragen werden.

5. Maßnahmen als Fortbildung nutzen 

Die genannten Beispiele sind Teil einer proaktiven Personalpolitik mit Instrumenten des klinischen Risikomanagements. Weitere Methoden, die zur Patientensicherheit und zugleich zur Mitarbeitendenbindung beitragen, können regelmäßige Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen, retrospektive Fallanalysen und Simulationstrainings sein. Neben Zugewinn an fachlichen Kenntnissen bieten solche Maßnahmen auch Möglichkeiten zur Fortbildung und zur Bearbeitung von Teamfaktoren, wie Störungen in der Kommunikation in zeitkritischen Situationen oder fehlendes beziehungsweise fehlerhaftes Wissen zu festgelegten Vorgehensweisen. Wenn diese Instrumente in einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung eingesetzt werden, empfinden Mitarbeitende sie als Bereicherung. Denn Erwerbstätige möchten ihre berufliche Qualifikation erhalten und ausbauen, auch die über 50-Jährigen. Ihnen das mit Verweis auf das Alter vorzuenthalten, wird als Zurücksetzung empfunden. Risikomanagement fordert per se die regelmäßige Teilnahme aller Beschäftigten an diesen Maßnahmen und trägt damit zur Gleichbehandlung bei.  

Patientensicherheit und zugleich Bindung von Mitarbeitenden

Die Instrumente des Risikomanagements sollen die Patientensicherheit erhöhen. Zugleich können sie angewandt werden, um Mitarbeitende zu gewinnen und langfristig zu binden. Oftmals sind die Ergebnisse einer erfolgreichen Personalpolitik identisch mit denen eines effektiven Risikomanagements. Es gilt zukünftig, die Ressource Mensch gut zu pflegen, also den Beschäftigten über alle Berufsgruppen hinweg einen attraktiven Arbeitsplatz zu bieten. Die zahlenmäßig kleinere nachfolgende Generation muss gefördert werden, damit sie möglichst lange und gesund in ihrem Beruf erwerbstätig bleibt. So kann der Wegfall der Babyboomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt kompensiert und weiterhin eine hochwertige Patientenversorgung gewährleistet werden.


1 Destatis, Grunddaten der Krankenhäuser 2011 & 2017.
2 Raphael Peter (Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, Universität Ulm) und Hans Martin Hasselhorn (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Berlin): „Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe – Ein Modell“ in Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 3, 2013.
3 Mathias Lohmer, Bernd Sprenger, Jochen von Wahlert: „Gesundes Führen. Life-Balance versus Burnout im Unternehmen“, Stuttgart, Schattauer GmbH, 2012.