Spätestens seit der 2014 eingeführten S3-Leitlinie „Vermeidung von perioperativer Hypothermie“, die im Jahr 2019 eine Aktualisierung erfahren hat, können Maßnahmen zur Vermeidung eines Abfalls der Körperkerntemperatur unter 36 Grad Celsius nicht mehr negiert werden. Auch bei den Anwälten der Patienten und den Gutachtern ist das Thema Unterkühlung angekommen und wird in Anspruchsstellungen verwendet. Dass dieses haftungsrelevante Thema in der Praxis dennoch fatalerweise eher stiefmütterlich behandelt wird, zeigt der folgende Schadenfall. Dietmar Schulz, Jurist für Arzthaftungsrecht aus der Schadenabteilung unserer Unternehmensgruppe, und Risiko-Berater Axel Krause von der GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH berichten.

Der Schadenfall

Eine ältere Dame leidet seit längerer Zeit an Beschwerden im linken Knie. Sie begibt sich daher in stationäre Behandlung. Nach einer diagnostischen Spiegelung soll eine zementierte unikondyläre Schlittenprothese eingesetzt werden. Dem Anästhesieteam sind im Vorfeld folgende Umstände bekannt:

  1. Eine Operationszeit von mehr als zwei Stunden ist eingeplant.
  2. Die Patientin ist zum Zeitpunkt des Eingriffs über 60 Jahre alt.
  3. Die Einordnung in den ASA-Score ist höher als Faktor 1.
  4. Die Frau ist untergewichtig.

Nach Durchführung der Operation wird im Aufwachraum eine Körpertemperatur von 34,7 Grad Celsius gemessen.

Die Patientin leidet sehr unter der Unterkühlung. Es stellt sich bei ihr ein permanentes Zittern der linken Hand ein, das sie auf die Hypothermie zurückführt. Aus diesem Grund wendet sie sich an eine Gutachter- und Schlichtungsstelle.

Bei der Recherche des Gutachters stellt sich heraus, dass die Maßnahmen zum Wärmemanagement nicht in der Krankenakte dokumentiert worden sind. Als Ergebnis der Temperaturmessung wurde in den Behandlungsunterlagen die im Aufwachraum gemessene Körpertemperatur von 34,7 Grad Celsius notiert. Andere Messergebnisse wurden nicht festgehalten.

Der Gutachter stellt entsprechend ausführlich dar, dass elementare Regeln des Wärmemanagements nicht dokumentiert wurden. In aller Deutlichkeit weist er auf einen Verstoß gegen die S3-Leitlinie zur Vermeidung der perioperativen Hypothermie hin. Mit den eingangs aufgezählten Punkten 1) bis 4) bestehen bereits drei von fünf patientenbezogenen Risikofaktoren für eine perioperative Hypothermie. Trotz dieser Risikofaktoren sei entgegen der Leitlinie weder prä- noch interoperativ die Körpertemperatur gemessen worden, ebenso sei keine aktive Erwärmung der Patientin im Anästhesieprotokoll eingetragen worden.

Alles in allem wird also ein deutlicher Verstoß gegen medizinische Standards festgestellt. Nur weil die Patientin den Nachweis für einen Zusammenhang zwischen der Unterkühlung und dem chronischen Zittern der linken Hand nicht erbringen kann, bleibt dem Versicherer eine Regulierung des Schadens bislang erspart. Im Falle einer Blutung oder einer Infektion wäre eine Entschädigungszahlung wohl nicht zu vermeiden gewesen.
 

Anforderungen an die Praxis

Die systematische Nutzung des Wärmemanagements erfordert eine übergreifende Betrachtung und Bewertung der notwendigen Maßnahmen durch das gesamte Behandlungsteam. Insbesondere die Anästhesiologie und der Pflegedienst (Anästhesie und OP) sollen entsprechende Kontrollmaßnahmen vornehmen.

Das grundsätzliche Verständnis für die Notwendigkeit zur Durchführung des Wärmemanagements soll in Schulungen und Workshops vermittelt werden. Ziel ist es, im üblicherweise eng getakteten OP-Prozess die zeitlichen Ressourcen zu berücksichtigen und Akzeptanz für die Festlegung von Kontrollmechanismen und -maßnahmen zu implementieren. Teilweise wird das Wärmemanagement bislang ohne verbindliche Vorgaben angewendet. Eine Evaluation des Prozesses erfolgt daher auch nicht regelhaft auf Grundlage der S3-Leitlinie.

Mit Vorgabe der in diesem Fall sehr praxisorientierten AWMF-S3-Leitlinie zur Vermeidung von perioperativer Hypothermie in ihrer aktualisierten Fassung von 2019 ist nunmehr eine eindeutigere Betrachtung und Durchführung des Wärmemanagements möglich.

Die begünstigenden Faktoren für die Entstehung einer Hypothermie sind bereits durch Forschungsvorgaben und Untersuchungen bestätigt und in der Regel den Mitarbeitenden bekannt. Die Herausforderung besteht darin, systematisch Prozessrisiken zu kontrollieren und Handlungen zu bewerten.

Die Risikobewertung setzt daher bereits an

  • bei der OP-Planung,
  • bei den OP-Planungsgesprächen,
  • bei der Prämedikationsvisite der Anästhesie,
  • bei der OP-Vorbereitung auf den Pflegestationen.

Hierbei geht es um die klinische Beobachtung, Anamneseerhebung, Beurteilung vorhandener Risikoquellen beziehungsweise die Nutzung von Hinweisen aus vorausgegangenen Behandlungen (Anästhesie-Pass).

Die Bewertung der Faktoren Alter, Kachexie, die besondere Situation von Kindern und Neugeborenen sowie die OP-Dauer soll nach strukturierten Verfahren vorgenommen werden.

So ist es sinnvoll, auf bereits etablierte Sicherheitschecklisten zurückzugreifen und mit deren Hilfe die Durchführung von Kontrollmaßnahmen nachzuweisen. Die systematische Aufklärung und Information der Patienten durch das Pflegepersonal muss nachweislich dokumentiert sein.

In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Anforderungen an die Patienteneinbindung hochaktuell sind. Die frühzeitige Einbindung der Patienten sowie die Vermittlung von Risiken sollen sie darin unterstützen, auch selbst eine Verantwortung wahrzunehmen und den Prozess im Blick zu behalten. Hierzu finden sich Hinweise und Empfehlungen in der Anlage F der S3-Leitlinie. Im Rahmen der Patienteninformation und Aufklärung zum Wärmemanagement sollen systematisch Risiken oder Vorerkrankungen anamnestisch erkannt und eingeschätzt werden (Hypothyreose, Diabetes Mellitus, Querschnittlähmung).


 

Die visuelle Analogskala

Ziel ist, einen positiven Behandlungsverlauf und das persönliche Wohlgefühl der Patienten gleichermaßen zu berücksichtigen. So ist es sinnvoll, das individuelle Temperaturempfinden der Patientin oder des Patienten zu bewerten. Hierzu bietet sich die bereits seit Jahren erprobte visuelle Analogskala (VAS) für die Einschätzung von Schmerzen an.

Nach entsprechender Anpassung kann so das persönliche Kälteempfinden der Patientin oder des Patienten bewertet werden. Hierdurch ergibt sich auch mehr Sicherheit in Situationen, in denen beispielsweise das sogenannte Prewarming noch nicht nach Standard angewendet werden müsste, aber aus dem persönlichen Empfinden der Patientin oder des Patienten solche Maßnahmen begründet abgeleitet werden. Diese Methode ist zwar nicht validiert, aus Sicht der Patientin oder des Patienten jedoch sinnvoll, da sie/er eine persönliche, numerische Bewertung ihres/seines Kälteempfindens darlegen kann. Auch hier ist der Aspekt der Einbindung der Patienten in die Vorbereitung des Wärmemanagements hilfreich.

 

-5 -4 -3 -2 -1 0 +1 +2 +3 +4 +5
maximal kalt angenehm maximal warm