Das Landgericht München II hat am 4. Mai 2022 in einer Entscheidung einen Krankenhausträger und einen behandelnden Narkosearzt zu Schadenersatz und Schmerzensgeld gegenüber einer ehemaligen Patientin verurteilt, da zwei Behandlungsfehler vorlagen. Die rechtskräftige Entscheidung (Az. 1 O 2667/19) ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie sowohl das Verteidigungsverhalten der Beklagten während des Gerichtsprozesses als auch das prozessuale Vorgehen der Klägerin bewertet und in das Urteil einfließen lässt. Das Landgericht München II betritt damit Neuland. Sandra Miller, Fachjuristin für Medizinrecht in unserer Unternehmensgruppe, fasst den vorliegenden Fall und das Urteil im Hinblick auf die genannten Aspekte zusammen.

Der Fall

Die Klägerin unterzieht sich einer Operation an der Wirbelsäule. Vor Einleitung der Narkose injiziert die beim Krankenhausträger angestellte Anästhesieschwester statt Midazolam (Wirkung: schlaffördernd, beruhigend, angstlösend, entspannend) Succinylcholin (ein Muskelrelaxan). Daraufhin schreit die Klägerin auf und erleidet einen Atemstillstand. Später schildert sie ein Gefühl der Lähmung, der Angst zu ersticken und der Todesangst. Als Folge leide sie unter dauerhaften psychischen Beschwerden und habe bereits einen Suizidversuch unternommen. Die Klägerin verklagt den Narkosearzt (Beklagter zu 1) und den Krankenhausträger (Beklagter zu 2) auf Schadenersatz und Schmerzensgeld. 

Die Entscheidung

Das Gericht stellt zwei Behandlungsfehler fest: die fehlerhafte Medikamentengabe und die unterbliebene Aufklärung über den Fehler. 

Haftung für die Medikamentenverwechselung

Für die fehlerhafte Medikamentengabe haftet allein der Krankenhausträger. Das Fehlverhalten der Anästhesieschwester wird ihm zugerechnet. Der Narkosearzt haftet nicht. Er durfte auf das Aufziehen des richtigen Medikamentes vertrauen. 

Haftung für unterbliebene Fehleraufklärung 

Im Hinblick auf die unterbliebene Fehleraufklärung stellt das Gericht einen Verstoß beider Beklagter fest. Die Verpflichtung zur Fehleraufklärung ergibt sich aus § 630c Abs. 2 S. 2 BGB. Danach obliegt es der Behandlerin oder dem Behandler, die Patientin beziehungsweise den Patienten über jene erkennbaren Umstände zu informieren, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, sofern dies zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren erforderlich ist. Diese Verpflichtung und die Pflicht zur Behandlung der Patientin beziehungsweise des Patienten nach Facharztstandard (inklusive der Fürsorge für seine Gesundheit) sind nach einem Zwischenfall – unabhängig davon, ob dieser verschuldet war oder nicht – einzuhalten. Zudem sollte die Behandlerin oder der Behandler die Ursachen und die dadurch bewirkte Situation erläutern, ferner die von der Patientin oder dem Patienten benötigte Unterstützung eruieren sowie schließlich gemeinsam mit ihr beziehungsweise ihm besprechen, wie der leidtragenden Person in der konkreten Situation geholfen werden kann. 

Nach Auffassung des Landgerichts haben es beide Beklagten in dem vorliegenden Fall versäumt, die Ursache des Zwischenfalles festzustellen und der Klägerin durch eine entsprechende Information die psychische Aufarbeitung des Erlebten zu ermöglichen.  

Bemerkenswert ist, dass das Gericht in diesem Zusammenhang ausführlich das Verteidigungsverhalten der Beklagtenseite während des Prozesses bewertet.

Der erste Leitsatz der Entscheidung bringt die Bewertung des Gerichts im Hinblick auf das Verhalten der Beklagten auf den Punkt: 

„Zu den ärztlichen Hauptpflichten aus dem Behandlungsvertrag gehört es, einem Patienten Ursachen, Verlauf und Folgen eines Zwischenfalls zu erläutern und ihm Hilfen bei der Bewältigung anzubieten, soweit der Patient hierauf angewiesen ist, um das Erlebte angemessen verarbeiten zu können. Dies obliegt der Behandlerseite bereits ab dem Moment des Schadenseintritts, aber erforderlichenfalls auch noch in der Folgezeit, gegebenenfalls auch nach Erhebung einer Arzthaftungsklage; das gilt insbesondere dann, wenn ein erstes gerichtliches Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis kommt, die Beschwerden seien iatrogen (durch ärztliche Einwirkung entstanden, d. Red.) und nicht Folge eines pathologischen Prozesses. Im Einzelfall kann dies sogar die Notwendigkeit implizieren, auch bei Ablehnung eines gerichtlichen Vergleichsvorschlages durch den Patienten, welchen die Beklagten angenommen hätten, die Haftung – wenigstens dem Grunde nach – anzuerkennen und das Bedauern zum Ausdruck zu bringen. Kommt die Behandlerseite dieser Pflicht zum Eingeständnis ihrer Verantwortlichkeit über einen langen Zeitraum nicht nach, obwohl es verschiedene Anlässe hierzu gegeben hat, so führen diese Anlässe nicht zum Vorliegen mehrerer Pflichtverletzungen; vielmehr liegt insgesamt nur eine Pflichtverletzung vor, deren Dauer und – im Hinblick auf die mehrfachen Anlässe zu pflichtgemäßem Verhalten festzustellende – Nachhaltigkeit aber schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen ist. Diese Umstände sind vorliegend erfüllt.“

Verantwortung des Behandelnden

Teil der ärztlichen Behandlungsverantwortung ist es demnach, als Behandlerin oder Behandler Mitgefühl zu gewähren und sich zu verantwortenden Schäden zu bekennen – insbesondere dort, wo die Patientin resp. der Patient dies zur Genesung benötigt. Diese Behandlungsverantwortung besteht insbesondere auch während eines laufenden Gerichtsverfahrens fort. 

In diesem Fall benannten zwei gerichtliche Gutachten klar die Verantwortung des Arztes und des Krankenhausträgers. Dennoch stellten die Beklagten bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung ihre Einstandspflicht dem Grund nach in Abrede. Dieses Verhalten bewirkte eine Intensivierung des Schadens – so das Gericht.

Der Umstand, dass die Behandelnden sich hier prozessual in einer beklagten Rolle befinden, kann bestimmte Verhaltensweisen rechtfertigen, die ihnen andernfalls nicht gestattet wären. Aber das Gericht setzt dem in seiner Urteilsbegründung Grenzen. Soweit ein Behandlungsfehlervorwurf erkennbar berechtigt erhoben wird, stellt das Bestreiten der Verantwortlichkeit demnach keine Wahrnehmung berechtigter Interessen mehr dar. Zumindest dann nicht, wenn die Patientin beziehungsweise der Patient erkennbar auf ein Eingeständnis einer – tatsächlich auch gegebenen – Verantwortlichkeit des Behandelnden angewiesen ist, um den Zwischenfall angemessen verarbeiten zu können, und wenn das für die behandelnde Seite zumutbar ist. Das haftpflichtversicherungsvertragsrechtliche Anerkenntnisverbot wurde bereits im Jahr 2008 abgeschafft.

Daraus folgt für den hier erörterten Fall: Spätestens nach Vorliegen der zwei Sachverständigengutachten hätten die Beklagten ihr Verteidigungsverhalten ändern müssen. Eine Entschuldigung und die Abgabe eines Haftungsanerkenntnisses wären geboten gewesen, um die Dynamik des Geschehens und das Leiden der Betroffenen zu verringern. Aber so ein Signal war nach Erkenntnis des Gerichtes nie gesendet worden. Dieses Verhalten habe die Situation für die Geschädigte noch verschlimmert.
 
Da nutzte es auch nichts, dass Arzt und Krankenhaus einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag befürwortet hatten, den die Klägerin wiederum ablehnte. Denn ungeachtet dieses Umstands wäre es den Beklagten möglich und zumutbar gewesen, der Klägerin entgegenzukommen und auch ohne die Abgeltungswirkung eines Vergleichs für ihr Fehlverhalten einzustehen.

Das Gericht sieht ein Mitverschulden bei der Klägerin

Das Gericht kommentiert aber auch das prozessuale Verhalten der Klägerin, vor allem ihre Ablehnung des Vergleichsvorschlags. Hierdurch habe die Geschädigte letztlich zu dem langwierigen Verlauf ihrer psychischen Beeinträchtigungen und ihrer Verbitterung selbst beigetragen. Das hierdurch bewirkte Mitverschulden bewertet das Gericht anspruchsmindernd mit 50 Prozent. Auch an dieser Stelle ist es am besten, die Kammer in ihrer Urteilsbegründung selbst sprechen zu lassen:

Der zweite Leitsatz des Urteils

„Dem Geschädigten ist es nicht verwehrt, auf eine Aufarbeitung des Sachverhalts und der Verantwortlichkeiten mittels eines Urteils zu bestehen, anstatt sich mit den Schädigern gütlich zu einigen. Die durch die Fortdauer des Prozesses verbundenen Belastungen sind auch in diesem Fall – bis zur Grenze einer Begehrensneurose – dem Grunde nach ersatzfähige Folgen des Behandlungsfehlers. Indes trifft den Patienten ein Mitverschulden, wenn er den Rechtsstreit (mit dem Ziel einer Verurteilung anstelle eines Vergleiches) aus Verbitterung in die Länge zieht (und sich damit eigenverantwortlich diesen Belastungen aussetzt), obwohl er mit Hilfe einer zumutbaren Willensanstrengung in der Lage gewesen wäre, auch ohne streitige Entscheidung des Gerichts die traumatisierenden Erfahrungen hinter sich zu lassen und sein Leben auf neue Füße zu stellen.“

Die Neubewertung des Gerichts besteht letztlich darin, dass beiden Seiten buchstäblich die Leviten zu ihrem Verhalten innerhalb des Prozesses gelesen werden. Wurde eine solche Verteidigungstaktik der Beklagten bislang unter dem Begriff des Regulierungsverhaltens der Versicherung subsummiert und gegebenenfalls schmerzensgelderhöhend berücksichtigt, so wird sie hier quasi als Fortsetzung des Behandlungsfehlers angesehen, weil selbst dann keine Entschuldigung erbeten wurde, als die Fehler zweifelsfrei feststanden. Auf der Gegenseite sieht das Gericht aber auch die Verpflichtung, das eigene Leiden nicht auch noch zu verstärken, sofern mit einer „zumutbaren Willensanstrengung“ ein vernünftiger Ausweg aus der Situation möglich gewesen wäre. 

Es bleibt abzuwarten, ob andere Gerichte diese Praxis aufgreifen. Zumindest unterstreicht das Urteil aber einmal mehr, dass Kommunikation zwischen Behandlungs- und Patientenseite auch und gerade nach einem potenziellen Fehler stattfinden muss. Oftmals lassen sich durch ein klärendes, empathisches Gespräch ein größerer Schaden und erhebliche Verbitterung vermeiden.