Das Bundesverfassungsgericht hat diese provokante Frage klar beantwortet: Menschliches Leben ist absolut erhaltungswürdig.

Können aus der Lebensverlängerung für einen schwerkranken Menschen Haftungsansprüche abgeleitet werden? Müssen Ärztinnen und Ärzte damit rechnen, dass Angehörige von Ihnen Schmerzensgeld und Schadenersatz verlangen, wenn sie lebenserhaltende Maschinen nicht abschalten, weil der Patient keine klare Verfügung für einen solchen Fall getroffen hat? Nein, das müssen die Medizinerinnen und Mediziner beziehungsweise die Kliniken auch in Zukunft nicht erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat das in einem Beschluss aus dem November 2022 noch einmal unterstrichen. Eine Verfassungsbeschwerde, die diesen Sachverhalt zum Thema hatte, wurde nicht angenommen: Ein Erbe könne aus dem Leid seines verstorbenen Elternteils keine Schadensersatzansprüche ableiten, heißt es in dem Beschluss der Verfassungsrichter (Az.: 1 BvR 1187/19).

Die Verfassungsbeschwerde war von dem Sohn und Erben eines im Jahr 2011 verstorbenen Mannes eingereicht worden. Aus Sicht des Beschwerdeführers hatte der betreuende Arzt das Leben seines demenzkranken Vaters und damit dessen Leiden unnötig verlängert. Der Schwerkranke wurde von 2006 bis zu seinem Tode im November 2011 in einem Pflegeheim durch eine Magensonde ernährt und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Seit 2008 war keine Kommunikation mit dem Mann mehr möglich, er erhielt durchgängig Schmerzmittel, hatte immer wieder Fieber, Lungenentzündungen und andere Erkrankungen. Aber es gab keine Patientenverfügung oder eine andere Willensbekundung des Kranken zum Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen.

Auch ein Leben voller Leid ist ein Leben

Nachdem Tod des Vaters erhob deshalb der Sohn und Erbe Ansprüche gegen den Hausarzt auf 100.000 Euro Schmerzensgeld und weiteren Schadensersatz in Höhe von 52.000 Euro für Pflegekosten. Der Fall ging bis vor den Bundesgerichtshof, der das Ansinnen des Erben aber ablehnte. Menschliches Leben sei absolut erhaltungswürdig, das Urteil darüber stehe keinem Dritten zu, stellten die Bundesrichter im April 2019 fest. Deshalb verbiete es sich, ein Leben gegenüber dem Tod als Schaden anzusehen, auch wenn es ein Leben voller Leiden sei. 

Der Sohn zog die letzte juristische Karte und legte Verfassungsbeschwerde ein. Er sah die Grundrechte seines Vaters verletzt, insbesondere den Schutz der Menschenwürde, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Außerdem fand der Beschwerdeführer, auch sein eigenes, durch Artikel 14 Grundgesetz geschütztes Erbrecht sei verletzt worden. 

Doch die Karlsruher Verfassungsrichterinnen und -richter nahmen die Beschwerde nicht an. Zum einen, weil höchstpersönliche Rechte nicht durch Dritte geltend gemacht werden können. Zum anderen, weil die Verfassungsrichterinnen und -richter keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Spruch des Bundesgerichtshofes hegen. Die Argumentation lautete auch hier: Das menschliche Leben ist das höchstrangigste Rechtsgut und daher absolut erhaltenswürdig. Deshalb hat der Staat einen Schutzauftrag zugunsten des Lebens. Der findet seine Grenze im Selbstbestimmungsrecht. Aber hier war weder der tatsächliche noch der mutmaßliche Wille des Verstorbenen feststellbar, also war dem Schutzauftrag des Staates für das Leben Vorrang einzuräumen.

Selbstbestimmungsrecht ja! Fremdbestimmungsrecht nein!

Das heiße aber nicht, dass das Leben grundsätzlich in jedem Fall erhaltungswürdig ist, steht weiter im Beschluss der 3. Kammer des Bundesverfassungsgerichtes zu lesen. Von daher könne eine lebenserhaltende Maßnahme, die gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werde, durchaus haftungsrechtliche Folgen haben.

Im letzten Teil des Beschlusses widmen sich die Richterinnen und Richter noch der Frage, ob der Erbe Schadensersatzansprüche aus dem Leid des verstorbenen Vaters ableiten kann. Die Antwort ist klar: Nein. Das Verfassungsgericht sieht darin eine Parallele zum Urteil des Bundesgerichtshofes im sogenannten „Röteln-Fall“ aus dem Jahr 1983. Klägerin in diesem Fall war unter anderem ein schwerstgeschädigtes Kind gewesen, bei dessen Mutter der Arzt in der Schwangerschaft eine Röteln-Erkrankung nicht erkannt hatte. Das Kind könne aus der eigenen Existenz keine Schadenersatzansprüche ableiten. Genauso wenig sei das dem Erben aus dem Leid eines Verstorbenen möglich, schlussfolgerte die Kammer.

Der Beschluss unterstreicht letztlich, wie wesentlich entsprechende rechtssichere Verfügungen für alle Seiten sind. Dem Einzelnen kommt in dieser Hinsicht die alleinige Verantwortung zu.