Trias aus Kultur, Struktur, Handlungspraxis
Inklusion beginnt in den Köpfen – ein Leitsatz, der gerne und häufig gesagt wird. Aber Prof. Dr. Michael Komorek ist überzeugt, dass dieser Satz nicht ganz stimmt. Er sagt: „Sie können noch so sehr von der Gleichberechtigung aller überzeugt sein, das nützt aber nichts, wenn Sie an den Rahmenbedingungen scheitern, am Arbeitsplatz oder in der Schule.“ Wer Inklusion wirklich umsetzen wolle, müsse an drei Stellen gleichzeitig ansetzen, an der Trias aus Kultur, Struktur und Handlungspraktiken: „Kultur ist die Einstellung in den Köpfen. Struktur, das sind die Rahmenbedingungen. Und bei der Handlungspraxis entwickeln wir Praktiken, wie wir mit Menschen umgehen möchten.“
Menschen werden angepasst, statt Systeme zu verändern
Bezogen auf die Sozialwirtschaft erkennt Michael Komorek beim Umgang mit den besonderen Zielgruppen ein Manko. „Die Sozialwirtschaft verfolgt zum Beispiel ihr integratives Ziel, Menschen mit Behinderung auf dem normalen Arbeitsmarkt unterzubringen. Dafür versuchen die Fachkräfte, diese Menschen dem ersten Arbeitsmarkt anzupassen, bis sie sich dafür eignen. Aber warum vollziehen wir nicht einen Perspektivwechsel? Wir verändern die Einrichtung oder ein Unternehmen, sodass Menschen mit ihren Beeinträchtigungen dort arbeiten können.“ Die Frage für ein Unternehmen der Sozialwirtschaft laute also nicht: Wie schärfen wir unseren Fokus noch mehr auf eine spezielle Zielgruppe? Sondern: Wie öffnen wir uns für weitere Zielgruppen, damit die Alten und Jungen zusammenkommen, die Menschen mit und ohne Behinderung? „Wir orientieren uns hin zur Vielfalt. Auf diese Weise entwickelt sich eine Organisation.“
Zum Thema „Inklusion als Leitmotiv zur Organisationsentwicklung“ hat Christiane Völz sehr viele Erkenntnisse in der Praxis gesammelt, und zwar im gleichnamigen Modellprojekt der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sie sagt: „Es gibt nicht den inklusiven Verein, das inklusive Unternehmen, sondern wir sind auf dem Weg. Wir versuchen, Barrieren zu erkennen, sind offen für Hinweise, prüfen uns selbst immer wieder und schauen, wo es hapert.“ Die drei Aspekte Kultur, Struktur, Handlungspraxis fließen auf diesem Weg natürlich ineinander. In einer Organisation stelle sich zunächst die Haltungsfrage: Habe ich überhaupt den Willen hin zu einer inklusiven Organisation? Dann müsse sie sich mit den eigenen Strukturen auseinandersetzen, und zwar ganz praktisch, wie Christiane Völz ausführt: „Wie kommen zum Beispiel Mitarbeitende im Rollstuhl ins Gebäude hinein? Sind dort Stufen oder gibt es einen Fahrstuhl? Hat dieser Knöpfe in erreichbarer Höhe?“ Gegebenenfalls müssten Strukturen und Abläufe der Organisation verändert werden. Nicht der einzelne Mensch müsse sich anpassen.
Oder Stichwort Stellenanzeigen: Welche Kultur vermitteln diese? Fühlen sich auch Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen? Mit neuen Mitarbeitenden im Unternehmen biete sich der Führungsebene die Chance, mit ihnen zusammen über Stellenanzeigen nachzudenken: Wie müssen wir als Unternehmen unsere Ansprache ändern, damit bestimmte Menschen nicht ausgegrenzt werden? „Beteiligung ist gewünscht, denn bei Inklusion geht es um partizipative Strukturen“, stellt Christiane Völz fest.
Ausgrenzung findet überall statt
Inklusion betrifft nicht nur Behinderteneinrichtungen, im Gegenteil: Jedes Unternehmen, jede Branche müsse sich um dieses Thema kümmern. Zum Beispiel auf der Führungsebene. Christiane Völz sagt: „Wir haben festgestellt, dass bei der AWO sehr viele Frauen arbeiten, aber nicht in Führungspositionen. Woran liegt das? Wie können Frauen unterstützt – empowered – werden, damit sie sich auf Führungspositionen bewerben?“ Um Ausgrenzung in diesem Bereich zu überwinden, habe die AWO ein weiteres Projekt auf den Weg gebracht: „Inklusion in Führung“. Der Referentin ist allerdings wichtig: „Inklusion wird nicht durch ein Projekt erledigt, Haken dran, fertig. Das ist eine dauerhafte Aufgabe.“ Dessen müsse man sich bewusst sein, denn Organisationen neigten dazu, in alte Prozesse zu verfallen.
Inklusion? Das auch noch!?
Es gibt auch Führungskräfte, die nicht mitziehen wollen. „Inklusion? Was sollen wir denn noch alles machen!?“ Solche Sätze hat Christiane Völz in den fünf Jahren, als sie mit dem Inklusionsprojekt durch die Lande gezogen ist, häufiger gehört. Sie hat Verständnis dafür, denn Inklusion ist eine komplexe Herausforderung, da entsteht leicht ein Gefühl der Überforderung. Bewährt hat sich, dass sie nicht von außen gekommen ist und alles besser wusste. „Inklusion kann man nicht verordnen. Die Menschen haben selber nachgedacht und gemerkt: Ah, das ist mit Inklusion gemeint. Wir sind mit unserer Arbeitsweise gar nicht weit weg davon.“ Und dann haben sie doch mitgemacht und überlegt, wo sich ihr Arbeitsbereich weiter verbessern kann.
Auch in Teams ist Inklusion ein wichtiges Thema. Folgende Situation beispielsweise ergibt sich häufig: Jemand erlebt, dass die eigene Arbeitsleistung höher ist als die eines Kollegen. In Besprechungen rollt sie oder er dann schon mal mit den Augen … Aber vielleicht steckt eine chronische Krankheit dahinter oder eine familiär belastende Situation. Michael Komorek empfiehlt, so etwas als Team zu thematisieren. Er sagt: „Unternehmen tragen da Verantwortung, denn Unternehmen sollten ein Abbild der Gesellschaftsstruktur im Sozialraum sein. In jeder Organisation wird ein Wertekanon vermittelt, zum Beispiel, wie gehen wir mit Menschen um? Und diese Grundsätze werden in die Gesellschaft weitergetragen, in die Familien, zu Kunden.“ Das betrifft einen Automechaniker genauso wie eine Assistentin der Geschäftsführung. Michael Komorek stellt ein Begriffsdilemma fest. „Integration bedeutet bei uns oft: Sei du so, wie ich bin, und dann lasse ich dich so sein, wie du bist. Aber wir benötigen da einen Paradigmenwechsel.“
Auch in den Schulen: Sei du so, wie ich bin
Den Paradigmenwechsel wünscht sich der Heilpädagoge Komorek auch in den Schulen. Dort müssen geflüchtete Kinder beispielsweise häufig erst Deutsch lernen in Willkommensklassen, bevor sie in den normalen Klassen am Unterricht teilnehmen können. „Aber“, sagt Michael Komorek, „Lernen funktioniert doch viel umfassender.“ Die Frage sei, wie Kinder ihre Kompetenzen am besten erwerben könnten, zum Beispiel die Sprachkompetenz. Dazu erklärt der Experte: „Wir kennen das aus der Schulzeit. ‚Hello, my name is ...‘ Das ist langweilig. Aber bei einer Sprachreise in einer englischen Gastfamilie zu sein, sich verständigen zu müssen, das unterstützt das Sprachenlernen enorm. Sprachkompetenz geht einher mit der Sozialkompetenz.“ Der 42-Jährige ist überzeugt, dass Flüchtlingskinder am meisten durch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler lernen. Darum sollten sie in einer normalen Klasse mitlaufen. „Mitschülerinnen und Mitschüler können Tutorenfunktion übernehmen. Und das Ganze sollte natürlich flankiert sein von Sprachunterricht.“
Erst im Kontakt verschwinden Ängste
In gewisser Weise sieht Michael Komorek eine Berechtigung für Willkommensklassen oder für Sonderschulen: Kinder mit besonderem Förderbedarf werden dort passend zu ihren Bedürfnissen und entsprechend der vorhandenen Ressourcen betreut und beschult. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und ihm gemäße Förderung. Aber, sagt der Professor für Inklusion, „Jedes Kind hat auch ein Recht auf Gemeinschaft und soziales Leben. In Willkommensklassen oder Sonderschulen bleiben die Kinder mit besonderem Förderbedarf unter sich. Das ist für alle nicht gut.“ Er geht von der sogenannten Kontakthypothese aus: „Menschen entwickeln Ängste, wenn ihnen etwas fremd ist. Diese Ängste verschwinden, wenn etwas oder jemand nicht mehr fremd ist.“ Darum müsse man frühzeitig das Erleben einer gemeinsamen Gesellschaft ermöglichen.
In den Kindertagesstätten gelingt das. Da liegt die Quote bei den Integrationszahlen bei 80 bis 100 Prozent. Das heißt, fast alle Kinder mit besonderem Bedarf werden in einer Regelkita betreut. In der Schule dann scheint gemeinsames Lernen nicht mehr möglich zu sein. Dahinter steckt für Michael Komorek eine tradierte Prämisse, nämlich: „Dass alle Menschen am Ende einer Bildungszeit dasselbe können und wissen müssen, ganz homogen. Das ist eine veraltete Vorstellung. Heterogenität, Vielfalt hat einen eigenen Wert.“
Eine Beeinträchtigung kann eine geistige Behinderung sein oder eine körperliche, es kann eine Rechenschwäche sein oder eine Hochbegabung oder eine todbringende Krankheit – das alles spielt bei Inklusion keine Rolle. Christiane Völz und Michael Komorek sind überzeugt: Wir als Gesellschaft müssen – können – die Rahmenbedingungen schaffen, sodass jeder sich aufgehoben fühlt und entwickeln kann
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